Dreyfus, Haiti, Vietnam: Historische Aufarbeitung als Ventil
7. Juni 2025
Zwei Jahre nach der umstrittenen Reform zur Rente mit 64 stimmte die Nationalversammlung in dieser Woche für deren Rücknahme. Juristisch bleibt das folgenlos, politisch ist der Schritt jedoch brisant - zumal das Rassemblement National (RN) der linken Opposition zur Mehrheit verholfen hat. Seit den Parlamentswahlen im vergangenen Sommer steckt Frankreich bei strukturellen Reformen fest. Die Regierung hat keine absolute Mehrheit im Parlament.
Auf dem Terrain der Erinnerungspolitik hingegen herrscht Bewegung wie selten zuvor. In derselben Sitzungswoche nahmen die Abgeordneten drei Texte an, die historische Ereignisse neu einordnen oder Wiedergutmachung in Aussicht stellen.
Alfred Dreyfus - Posthum zum General
Am 2. Juni 2025 beschloss die Nationalversammlung in Paris einstimmig, Alfred Dreyfus posthum zum Brigadegeneral zu ernennen. Der jüdische Offizier wurde 1894 zu Unrecht des Hochverrats angeklagt. Die Vorwürfe stützten sich auf gefälschte Beweise. Angeblich habe Dreyfus militärische Geheimnisse an die deutsche Botschaft in Paris weitergegeben. Vier Jahre verbrachte Dreyfus in der Strafkolonie Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guayana.
Die deutsch-französische Dimension verlieh dem Fall schon damals eine außenpolitische Brisanz. Seine jüdische Herkunft, seine Abstammung aus dem 'Reichsland Elsass-Lothringen', das nach dem Krieg von 1870/71 unter deutsche Herrschaft gelangte, und die angespannten Beziehungen zu Deutschland machten ihn zur idealen Projektionsfläche für nationalistisches Misstrauen. Der Schriftsteller Émile Zola stellte sich mit seinem berühmten Artikel „J'accuse…!" auf die Seite Dreyfus‘.
Zwar rehabilitierte die Republik den Offizier 1906, der noch im Rang eines Oberstleutnants am Ersten Weltkrieg teilnahm. Doch blieb seine militärische Karriere bis heute unvollständig wiederhergestellt. Die nun beschlossene posthume Beförderung zum General wurde vom Elsässer Abgeordneten Charles Sitzenstuhl eingebracht und muss noch den Senat passieren. "Der Antisemitismus, der Alfred Dreyfus plagte, gehört nicht der fernen Vergangenheit an", warnte der Abgeordnete von Macrons Renaissance-Partei, der Berichterstatter für diesen Gesetzentwurf ist.
Anerkennung der "Rapatriés d'Indochine"
Einen Tag nach dem Dreyfus-Votum verabschiedete die Nationalversammlung ein Gesetz zur Anerkennung und Entschädigung ehemaliger Rückkehrer aus Vietnam. Nach dem Ende der französischen Herrschaft in Indochina 1954 wurden etwa 44.000 Personen, darunter Kolonialbeamte, Soldaten, deren Familien, sowie Nachkommen französischer Kolonisatoren und einheimischer Frauen und vietnamesische Kollaborateure, nach Frankreich repatriiert.
Etwa 4000 bis 6000 Rückkehrer landeten in provisorischen Lagern, oft in Holzbaracken ohne Heizung, fließendes Wasser oder Toiletten. Ausgehverbote und das Verbot, Fahrzeuge oder andere Wohlstandsgüter zu besitzen, prägten ihren Alltag in einer menschenunwürdigen Umgebung.
Das von den Sozialisten eingebrachte Gesetz sieht nun pauschale finanzielle Unterstützungen vor, die sich an der Aufenthaltsdauer in den Lagern orientiert. Schätzungen zufolge könnten noch bis zu 1600 Personen einen Entschädigungsanspruch geltend machen.
Resolution zu Haiti
Am 5. Juni verabschiedete die Versammlung eine Resolution zur sogenannten "doppelten Schuld" gegenüber Haiti. 1825 zwang Frankreich das am 1. Januar 1804 unabhängig gewordene Haiti, eine Entschädigung von 150 Millionen Goldfranken zu zahlen. Damit sollte die Unabhängigkeit anerkannt und der Verlust französischer Kolonialbesitztümer, einschließlich entgangener Sklaveneinnahmen, kompensiert werden. Diese "Unabhängigkeitsschuld" musste Haiti über Jahrzehnte hinweg begleichen. Das belastete die dortige Wirtschaft erheblich, was zu langfristiger Armut und Instabilität der Insel beitrug.
Die Initiative aus dem kommunistischen Lager ruft zu Anerkennung, Rückzahlung und Reparation auf. Konkrete politische Schritte oder finanzielle Vereinbarungen sind allerdings nicht Teil des Textes. Das RN stimmte gegen die Resolution.
Erinnerungspolitik mit Tradition
Erinnerungspolitische Voten haben in Frankreich Tradition. Mit der so genannte "Loi Taubira" wurde im Jahr 2001 Sklavenhandel und Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Auch in Schulen steht das Thema seitdem auf dem Lehrplan. Im Oktober 2006 verabschiedete die Nationalversammlung einen Gesetzesvorschlag, der das Leugnen des Völkermords an den Armeniern von 1915 im Osmanischen Reich unter Strafe stellen sollte. Vorgesehen waren bis zu ein Jahr Freiheitsstrafe oder 45000 Euro Geldbuße. Das Vorhaben passierte den Senat jedoch nicht und trat daher nie in Kraft.
Unter Präsident Nicolas Sarkozy wurde ein neuer, ähnlicher Gesetzesentwurf eingebracht. Dieser passierte beide Kammern des Parlaments, wurde jedoch im Februar 2012 vom französischen Verfassungsrat für verfassungswidrig erklärt, da er einen unzulässigen Eingriff in die Meinungs- und Forschungsfreiheit darstelle.
Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit den sogenannten "tirailleurs sénégalais", den Kolonialsoldaten aus Afrika, die in den beiden Weltkriegen für Frankreich gekämpft haben. Jahrzehntelang erhielten viele von ihnen deutlich geringere Pensionen als ihre französischen Kameraden, vor allem wenn sie nach der Dekolonisierung nicht in Frankreich lebten. Erst 2009 verfügte Präsident Sarkozy eine Angleichung der Rentenleistungen, ein Schritt mit großer symbolischer Tragweite.
Zwischen Anerkennung und politischer Funktion
Politikwissenschaftlich wird die aktuell hohe Zahl solcher Initiativen unterschiedlich bewertet. Einige Fachleute sehen darin eine Form gesellschaftlicher Reife und Bereitschaft zur historischen Verantwortung. Andere weisen darauf hin, dass sich in einer politisch gelähmten Legislative symbolische Initiativen leichter durchsetzen lassen als strukturelle Reformen etwa in den Bereichen Rente, Bildung oder Haushalt.