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KonflikteÄthiopien

Droht ein neuer Krieg in Äthiopiens Region Tigray?

Antonio Cascais | Million Haileselassie Mekelle
Veröffentlicht 5. Februar 2025Zuletzt aktualisiert 6. Februar 2025

Ein heftiger Machtkampf innerhalb der ehemaligen Befreiungsbewegung TPLF schürt bei vielen Bewohnern Tigrays Ängste vor neuer Gewalt. Wie stabil ist der Frieden in der kriegstraumatisierten Region?

Menschen protestieren auf einer Straße
Binnenflüchtlinge demonstrierten wie hier im Juni 2024 immer wieder für die Rückkehr in ihre HeimatBild: Million Hailesilassie/DW

In den vergangenen Tagen hat die Unsicherheit im Norden Äthiopiens spürbar zugenommen. Viele Menschen stürmten Banken, um Geld abzuheben und damit Grundnahrungsmittel und andere wichtige Güter zu kaufen und zu horten. "Bei uns in Tigray herrscht derzeit große Angst", berichtet Meresa Giday, Einwohner der Provinzhauptstadt Mekelle.

Die Menschen in Tigray seien immer noch sehr traumatisiert vom letzten Krieg, so Giday weiter. Der ist erst gut zwei Jahre her, schätzungsweise 600.000 Menschen starben. "Deshalb steigt jetzt die Panik bei uns!" Grund für die Sorgen sind Spannungen und Konflikte innerhalb der "Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), eine Partei, die einst in ganz Äthiopien Einfluss hatte.

Eine andere Bewohnerin aus Mekelle, die darum bittet, anonym zu bleiben, fügt hinzu: "Nach den Entwicklungen in der letzten Zeit herrscht bei uns tatsächlich große Panik. Die politischen Konflikte helfen uns nicht weiter, sie gefährden uns alle."

Auf den Märkten explodierten die Lebensmittelpreise regelrecht. In vielen Tankstellen ist der Treibstoff ausgegangen, Benzin wird zu horrenden Preisen auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Auch die Preise für den Transport von Konsumgütern und für öffentliche Verkehrsmittel sind gewaltig gestiegen. Die Menschen in Tigray haben Angst vor einem neuen Krieg.

Die Lebensmittelpreise explodieren, sagen die Einwohner der äthiopischen Region TigrayBild: Eduardo Soteras/AFP/Getty Images

Machtkampf innerhalb der TPLF schwelt seit Langem

Interne Differenzen sind für die TPLF nicht neu. Neu ist allerdings, so Beobachter, die Radikalität, mit der sich zwei rivalisierende Fraktionen aktuell gegenüberstehen: auf der einen Seite die Parteiführung der TPLF um Debretsion Gebremichael und auf der anderen Seite die regionale Übergangsverwaltung TIRA unter dem Vorsitz von Getachew Reda. Dieser fühlt sich zwar offiziell immer noch der TPLF zugehörig, ist aber bei der Parteiführung in Ungnade gefallen. Jede der beiden Seiten betrachtet die andere als illegal und als Feindin.

Nun ist sogar die Existenz der TPLF als legale Partei in reeller Gefahr: Der im August letzten Jahres von der Debretsion-Fraktion abgehaltene Kongress wurde von der äthiopischen Wahlbehörde nicht anerkannt. Die Wahlbehörde pocht darauf, dass die TPLF bis zum 9. Februar ihren formellen Parteitag noch einmal abhalten müsse. Wenn sie das nicht täte, so die Wahlkommission, dann wäre die TPLF keine legale Partei mehr. Das könnte eine zusätzliche Eskalation des Konflikts zur Folge haben.

Nutzt der Streit innerhalb der TPLF Abiy Ahmed?

Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed dürfte über das Chaos in der TPLF nicht unerfreut sein. Er hatte nach Beendigung des Tigray-Krieges 2022 Debretsion als Vorsitzenden der Übergangsverwaltung in Tigray abgelehnt. Schließlich fiel die Wahl auf den damaligen stellvertretenden Vorsitzenden der TPLF, Getachew. Bei den Friedensverhandlungen im südafrikanischen Pretoria unter Vermittlung der Afrikanischen Union hatte Getachew die Delegation der TPLF geführt.

Bild aus besseren Zeiten: Getachew Reda (links) und Debretsion Gebremichael geben sich im April 2023 die HandBild: Million Hailesilassie/DW

Eine Lösung, die damals Abiy Ahmed entgegenkam, innerhalb der TPLF aber nicht wirklich akzeptiert wurde. Dieser Konflikt trat 2024 offen hervor: Im September schloss die TPLF Getachew und 15 andere Mitglieder der Partei aus und erklärte, dass sie keine öffentlichen Ämter mehr im Namen der Partei ausüben dürften. Als Reaktion darauf beschuldigte Getachew sie, einen "Putsch" gegen die regionale Übergangsregierung in Tigray zu planen.

Gerrit Kurtz, Wissenschaftler und Konfliktforscher der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), bereiste im Herbst 2024 die Region Tigray und befasst sich mit dem Machtkampf. Im DW-Gespräch sagt Kurtz, dieser inner-tigrayische Konflikt könnte Premierminister Abiy politisch in die Hände spielen: "Der Vorwurf steht im Raum, dass es grundsätzlich im Interesse der Regierung in Addis Abeba sei, Tigray politisch schwach zu halten. Frei nach dem Motto: Solange die sich da untereinander streiten werden die sich nicht gegen die Zentralregierung auflehnen."

Abiy Ahmed, Äthiopiens Regierungschef hat es nicht geschafft, den Friedensvertrag von Pretoria vollständig umzusetzenBild: Prosperity Party -Ethiopia’s ruling party

Es gibt Stimmen, die Premierminister Abiy als Hauptschuldigen für die aktuelle Lage sehen: Sie weisen auf die mangelnde Umsetzung der Pretoria-Vereinbarung hin. Die äthiopische Bundesregierung habe es versäumt, dafür zu sorgen, dass Amhara-Milizen und eritreische Truppen Tigray verlassen. Dadurch werde die vollständige Rückkehr der fast eine Million vertriebenen Menschen, insbesondere nach West-Tigray, verhindert. Diese schlechte Bilanz spiele nun den Kritikern von Getachew und dessen Übergangsverwaltung in die Karten.

Bei den internen Machtkämpfen der TPLF geht es aber längst nicht nur um das politische Sagen oder ideologische Einstellungen. Es geht auch um Geld. Die Mitglieder der "alten Garde" kontrollierten erhebliche Unternehmensbeteiligungen, die während der Regierungszeit der TPLF aufgebaut wurden, analysiert Kurtz.

Gefahr eines Flächenbrandes?

Besteht die Gefahr, dass sich dieser Konflikt zu einem bewaffneten Kampf ausweiten könnte? Gerrit Kurtz von der SWP schließt dieses Szenario nicht aus. Es habe bereits einzelne militärische Gewalteinsätze gegeben und jetzt bestehe die zusätzliche Gefahr, dass das Militär der Region Tigray politisiert werde, führt Kurtz aus.

Bis vor Kurzem hätten sich die Militärs in Tigray überwiegend neutral verhalten, aber das beginne sich zu ändern: Einzelne Kommandeure hätten sich öffentlich positioniert und sich auf die Seite von TPLF-Chef Debretsion geschlagen. Deswegen gibt es jetzt die Sorge, dass diese Fraktion mit Gewalt versuchen könnte, die Übergangsverwaltung an sich zu reißen, fasst Kurtz die Lage zusammen.

Demobilisierung von Ex-Kämpfern in Tigray: Es wurden bislang nur die schweren Waffen abgegebenBild: Million Hailesilassie/DW

Der Politikwissenschaftler, Historiker und Journalist Jona Thiel spricht im DW-Interview gar von der Gefahr einer Ausweitung des Konflikts über die Grenzen der Tigray-Region hinaus: "Eine erneute Eskalation ist nicht auszuschließen, eventuell sogar unter Beteiligung externer Akteure wie Eritrea oder Sudan."

Die gesamte Region bleibe politisch höchst instabil, denn Äthiopien habe belastete Beziehungen zu fast allen seinen Nachbarn und umliegenden Staaten: zu Ägypten und Sudan wegen der Grand-Ethiopian-Renaissance-Talsperre; zu Somalia wegen des Hafen-Deals mit Somaliland, und zu Eritrea, aufgrund verschiedener jahrzehntelanger Konflikte. "Intern steht Abiy Ahmed zudem stark unter Druck: Die glorreichen Zeiten, in denen er international gefeiert wurde, sind vorbei", so Thiel weiter.

Bei all den Problemen, mit denen die Tigray derzeit zu kämpfen hätten: "Akut" sei die Kriegsgefahr derzeit noch nicht, so Gerrit Kurtz von der SWP. "Mein Eindruck ist, dass wir eher von einem allmählichen Putsch sprechen können, in dem Sinne, dass Angehörige der unterschiedlichen TPLF-Fraktionen auf lokaler Ebene Verwaltungen für sich in Anspruch nehmen, zum Beispiel Bürgermeisterposten und weiteren lokalen Verwaltungen." Dann gäbe es zum Teil zwei parallele Verwaltungen und die lokale Verwaltung wäre nicht mehr unter der Kontrolle der Übergangsregierung in Mekelle.

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