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Räumung auf Raten

Barbara Wesel 25. Februar 2016

Das Flüchtlingslager in Calais ist ein Schandfleck und Paris will ihn los werden. Der "Dschungel" schädigt das Image und macht politischen Ärger. Jetzt soll er schrittweise geräumt werden. Aus Calais Barbara Wesel.

Frankreich Flüchtlingslager Dschungel von Calais (Photo: AP Photo/J. Delay)
Bild: picture-alliance/AP Photo/J. Delay

Richterin Valérie Quemener hatte sich am Dienstagmorgen noch selbst vor Ort über die Lage im wilden Flüchtlingslager von Calais informiert. Sie zog einen langen Schweif von neugierigen Jugendlichen hinter sich her, als sie durch den Matsch zwischen den Hütten stapfte, um sich ein Bild über die Lebensbedingungen im "Dschungel" zu machen. Eine Reihe von NGOs hatte Klage erhoben und versucht, die von den Behörden angekündigte Räumung des Lagers zu verhindern. Aber der Einspruch der Helfer hatte keinen Erfolg. Die Räumung ist zulässig, urteilte jetzt die Richterin, schlechte hygienische Zustände, Unsicherheit und Gewalt würden sie rechtfertigen. Allerdings darf es keinen Polizeieinsatz mit Gewaltanwendung geben, sondern das Lager soll langsam innerhalb eines Monats geräumt werden.

Das Lager in Calais ist ein humanitäres DesasterBild: DW/L. Scholtyssyk

Aber wohin sollen die Menschen, die den Dschungel verlassen müssen? Das Innenministerium in Paris erklärt, man wolle die Flüchtlinge in anderen Einrichtungen unterbringen. Aber Hilfsorganisationen behaupten, es gebe in ganz Frankreich nicht genug Platz, um über 3000 Menschen aufzunehmen. Die Behörden jedoch wollen die Bevölkerung von Calais zufrieden stellen und die Dauerkrise um das Camp beenden.

Symbol für das Versagen der Regierung

In den vergangenen Monaten hatten Hütten die Zelte ersetzt, gebaut aus Latten und großen Plastikplanen. Sie geben etwas mehr Schutz gegen das Winterwetter an der französischen Küste. Aber nach ein paar Tagen Regen versinkt das Camp regelmäßig im Schlamm, der Weg zwischen den Hütten führt durch Wasserlöcher.

Hier wohnen viele Afghanen, Sudanesen, Eritreer und andere Schwarzafrikaner mit Syrern, Iranern und Irakern zusammen. In manchen der Gemeinschaftsunterstände geben selbstgemachte Öfen Wärme ab: Ein dutzend Männer scharen sich um eine leere Öltonne mit Ofenrohr, auf ein paar Steine gesetzt. Darauf werden auch Kartoffeln gebraten und Dosenbohnen gewärmt. Nach wie vor gibt eine Hilfsorganisation im Lager nur einmal am Tag ein Essen aus.

Das Container-Camp ist bei den Flüchtlingen unbeliebtBild: DW/L. Scholtyssyk

Räumung von Calais wird vorbereitet.

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In den Dornsträuchern auf dem Gelände hängt der Müll. Zwar kommt inzwischen die öffentliche Müllabfuhr, aber die Selbstorganisation unter den Bewohnern ist zu schwach, um Sauberkeit durchzusetzen. Nachts kommt es immer wieder zu Schlägereien und Diebstählen. Zwischen den Hütten laufen die Chemie-Toiletten über, die die Behörden aufstellen mussten, nachdem ein Gericht im November die menschenunwürdigen Zustände im Lager moniert hatte. Im Camp stinkt es wie in jedem Slum ohne Kanalisation. Die Regierung in Paris sieht es längst als Peinlichkeit.

Bewohner sollen umgesiedelt werden

"Wir wollen hier überhaupt keine Hau-Ruck-Aktion", beschwört der Sprecher des französischen Innenministeriums die zur drohenden Räumung angereisten Fernsehteams, obwohl im Hintergrund die Mannschaftswagen der gefürchteten CRS, der kasernierten Nationalpolizei, aufgezogen sind. Es gehe überhaupt nicht darum, die Bewohner einfach zu vertreiben: "Sie sehen doch, wie es hier aussieht", weist Pierre-Henry Bourget auf das Hüttendorf, "es sind humanitäre Gründe, die uns dazu gebracht haben, die Menschen umzusiedeln".

Belgien kontrolliert wieder an der Grenze zu FrankreichBild: Reuters/F. Lenoir

Das wolle man auf jeden Fall durch Überzeugung schaffen. Die Flüchtlinge sollen entweder einen Platz im neuen Container-Camp bekommen, das im Januar auf einem geräumten Teil des Lagers errichtet wurde. Oder man werde ihnen eine Unterkunft irgendwo anders in Frankreich verschaffen. Allerdings gibt es dagegen vielfach lokalen Widerstand, und NGOs kritisieren, dass es im ganzen Land nicht ausreichend Plätze für die über 3000 verbliebenen Bewohner des Dschungels gebe. Dennoch zieht ein Dreier-Team von "Überzeugern" durch die Gassen zwischen den Hütten, je zwei Behörden-Mitarbeiter und ein Übersetzer. Mit einer Landkarte von Frankreich in der Hand versuchen sie, die Bewohner einzeln zum Umzug zu bewegen und zeigen ihnen, wo sie etwa bei Lyon oder Tours unterkommen könnten. Der Job ist schwierig, die meisten hören schweigend zu, mit verschlossenen Gesichtern.

Kein Vertrauen in die Behörden

"Warum geht ihr nicht in das Containerdorf, das ist zwar nicht schön aber wärmer und trocken?", fragen wir eine Gruppe von Sudanesen. Und warum wollen sie nicht nach Südfrankreich umziehen, da wäre auch das Wetter besser? Aber die jungen Männer lachen und winken ab: "In den Containern müssen wir beim Reingehen unseren Fingerabdruck abgeben", dann seien sie für immer identifiziert. Und wenn die Franzosen die Daten weiterreichten, würden sie von den Briten niemals Papiere bekommen. Sie glauben weiter an ihre Chance in Großbritannien, auch wenn sie inzwischen wissen müssten, dass London quasi keine Asylbewerber aufnimmt. "Sie wollen es nicht wissen", sagt ein Älterer einer am Rande, "sie halten sich an der Hoffnung fest".

Faktisch ist es inzwischen fast unmöglich, in Calais auf die Fähren oder Züge nach Großbritannien zu kommen. Die Zäune wurden erhöht und verdoppelt, der Eurotunnel besonders geschützt. Nur mit Schleppern ist der Weg noch zu schaffen. Und die verlangen inzwischen 5000 Euro pro Kopf, heißt es im Lager. Auch haben sie ihre Arbeit weitgehend in das wilde Camp im Nachbarort Dunkerque verlagert, oder ins belgische Zeebrugge weiter im Westen. Deswegen haben auch die belgischen Behörden auf den Küstenstraßen jetzt Grenzkontrollen eingeführt. Sie fürchten, dass die vertriebenen Flüchtlinge von den Häfen in Belgien versuchen, auf die Fähren etwa ins englische Hull zu kommen.

Hussain will nach Großbritannien zu seiner FamilieBild: DW/L. Scholtyssyk

Was wird mit den Bewohnern?

Hussain ist freiwillig in einen der Familiencontainer im eingezäunten neuen Lagerteil gezogen. Der Afghane aus der Region Laghman ist zu alt für das harte Leben in den Hütten. Er ist Vater einer vielköpfigen Großfamilie, die schon vor zwei Jahren den Weg nach London geschafft hatte. "Da sind schon drei Söhne, zwei Schwiegertöchter, alle meine Enkel – mit mir ist nur noch meine jüngste Tochter". Aber ob er jemals zu seiner Familie kommen wird, ist zweifelhaft. Das Recht auf Familiennachzug erkennen britischen Behörden kaum an, nur ein Gerichtsurteil könnte da weiterhelfen. Hussain will weder einen Asylantrag stellen, noch sich irgendwo in Frankreich umsiedeln lassen: "Ich will nichts, als zu meiner Familie. Ich bin doch ein alter Mann".

So wie ihm geht es vielen, die noch im Dschungel von Calais ausharren. Sie haben Familie in England, einige hundert minderjährige Jugendliche versuchen nach Angaben von Hilfsorganisationen, zu ihren Angehörigen dort zu reisen. Sie alle werden an der französisch-belgischen Küste bleiben und dort weiter auf ihre Chance warten. Notfalls ziehen sie dafür auch von einem wilden Camp ins nächste.

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