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"Ruanda war seelisch zerstört"

Dirke Köpp7. April 2014

Alexander Kudascheff war 1994 als erster DW-Reporter nach dem Genozid in Ruanda. Im Interview spricht er über seine Eindrücke und die Rolle der internationalen Gemeinschaft - damals und heute.

DW 60 Jahre Alexander Kudascheff
Bild: imago/Kai Bienert

DW: Herr Kudascheff, Sie haben direkt nach dem Völkermord für die Deutsche Welle aus Ruanda berichtet. Was waren damals Ihre ersten Eindrücke?

Alexander Kudascheff: Das mag vielleicht komisch klingen, aber bei meiner Einreise mit dem Auto aus Uganda dachte ich: "Was für ein unglaublich schönes Land." Ruanda sah für mich aus wie der Schwarzwald. Ich bin aus dem Auto gestiegen, um mir diese sanften Berge und die wunderbaren Wälder anzuschauen - und dann habe ich plötzlich in einen Gewehrlauf geschaut: Vor mir stand ein Kindersoldat, zwischen neun und elf Jahre alt. Damals habe ich noch geraucht und mich gefragt: "Wie beruhige ich den Jungen - mit oder ohne Zigarette?" Ich habe dann mit ihm geredet und er erzählte, dass der Rebellenführer Paul Kagame [der heutige Präsident] vor ein paar Tagen hier durchgefahren sei. Und er habe jetzt den Auftrag, Wache zu halten. Da habe ich ihn beglückwünscht zu dieser ehrenvollen Aufgabe, habe ihm keine Zigarette angeboten und bin weitergefahren.

Sind Ihnen noch mehr Kindersoldaten begegnet?

Mir sind relativ viele begegnet. Aber sie waren nicht uniformiert oder gehörten erkennbar zu einer Einheit. Sie liefen einfach herum und ich habe vermutet, dass der eine oder andere weggeworfene Waffen der geflohenen Hutu-Milizen gefunden hatte. Ruanda war damals ein stark bewaffnetes Land, und viele dieser Waffen waren in Kinderhänden.

Sie waren mit einem ugandischen Fahrer unterwegs in Richtung der Hauptstadt Kigali. Wie muss man sich Ihre Reise vorstellen?

Wir sind von Uganda nach Kigali gefahren. Das einzige Hotelzimmer, das wir finden konnten, war eines ohne Fenster, Wasser, Strom oder Licht. Einheitspreis war ein Dollar. Der Fahrer und ich haben uns das Zimmer geteilt. Wir sind dann durch das ganze Land gefahren und über die Grenze nach Goma, im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Wir wollten sehen, was aus den Flüchtlingen geworden ist. Die meisten ausländischen Journalisten waren damals nicht in Ruanda, sondern bei der sogenannten Flüchtlingstragödie in Goma. Und in Ruanda interessierte eher die Suche nach versteckten Hutu-Mördern. Ich habe versucht, Paul Kagame zu interviewen, bekam aber außer "Morgen, Monsieur, morgen" nichts zu hören. Wir haben das Land durchstreift und mich hat das bis heute nicht losgelassen: dass Ruanda so unglaublich schön ist und dass ich die Menschen unglaublich sympathisch fand, auch in ihrer Zerstörtheit und Verletzlichkeit.

Hügellandschaft in Ruanda: "Wie der Schwarzwald"Bild: DW/A. Le Touzé

Sie fanden die Menschen sympathisch. Das berichten viele Ruanda-Reisende. Und doch waren viele während des Genozids zu schlimmsten Grausamkeiten in der Lage. Wie sind Sie damit umgegangen?

Wahrscheinlich haben wir nur die entdeckt, die Opfer waren. Man kann ja bei den Deutschen auch nicht begreifen, warum sie in der Lage waren, sechs Millionen Menschen in die Gaskammern zu schicken. Ich glaube, ich habe das damals als eine Art archaische Eruption wahrgenommen. Und als die vorbei war, sind die Menschen wieder zu sich gekommen.

Das Land war seelisch zerstört. Man ist an unglaublich vielen Schädelkaskaden vorbeigefahren, hat gehört, wie die Menschen darüber geredet haben, wie ihre Verwandten gestorben sind oder massakriert wurden. Wo immer man war, merkte man, dass die Menschen über das, was sie erlebt hatten, reden wollten. Man sah, was sich bei diesen Menschen abspielte, diese Mischung aus Überlebensfreude, Überlebensscham und Überlebensangst: Was kommt auf uns zu?

Die Blicke der Welt waren während des Genozids allerdings nicht auf Ruanda gerichtet.

Auch als Journalist muss man sich nachträglich dafür schämen, wie wenig man hingeschaut hat. Noch mehr müssen sich aber die schämen, die damals die Verantwortung hatten: in erster Linie also die UN, die in einer so erbärmlichen Art und Weise nicht gehandelt haben. Das gilt aber auch für die anderen: für den Westen, die NATO und besonders für die ehemalige Kolonialmacht Belgien. Die Belgier hatten ja eine lange Verbindung zu Ruanda und sie haben sich auch gefragt: Was haben wir falsch gemacht? Warum waren wir nicht in der Lage, diesen Genozid zu stoppen oder wenigstens zu mildern?

Paul Kagame ist seit 2000 Ruandas Präsident. Er hat versucht, Versöhnung zu erreichen - unter anderem durch ein Verbot, sich nach Ethnien zu definieren. Was halten Sie von dieser Politik?

Ich finde den Grundansatz, sich nicht um Ethnien zu kümmern, eigentlich richtig. Man bewegt sich damit weg von rassistischen Traditionen. Aber ob man das von oben verordnen kann? Die sozialistischen Länder haben das auch immer wieder versucht - ohne Erfolg, denn kaum war der Sozialismus weg, brachen überall die Nationalitäten-Probleme auf. Ich würde Kagame sehr vielschichtig und differenziert beurteilen: Er war wirtschaftlich sehr erfolgreich. Andererseits ist er der Mann der einen Ethnie und das ist für die andere Ethnie nicht so einfach zu akzeptieren. In einem Interview, das ich vor fünf oder sechs Jahren mit Kagame geführt habe, hat er auf mich den Eindruck gemacht, mit sich selbst im Reinen zu sein. Er wirkte wie jemand, der wahrscheinlich ahnt, dass er auch Fehler macht, aber den Kern seiner Politik für richtig hält. Ob das richtig ist und ob der ethnische Dissens überwunden ist, weiß man wahrscheinlich erst in der Zeit nach Kagame.

Ruandas Präsident Paul KagameBild: Reuters

Die internationale Gemeinschaft hat beim Genozid 1994 total versagt. Aus diesem Scheitern entstand das Prinzip der Schutzverantwortung. Wie wird die internationale Gemeinschaft heute dieser Schutzverantwortung gerecht?

Sie wird ihr nicht gerecht. Parallel zum Genozid hatten wir im Übrigen den Konflikt auf dem Balkan, bei dem wir uns exakt dieselben Fragen gestellt haben. Der berühmte Satz von Manfred Wörner, damals NATO-Generalsekretär, nach dem Sniper-Attentat auf dem Marktplatz in Sarajevo - "It is time to act" - hat sich eingebrannt bei vielen Menschen. Moralisch gibt es für mich überhaupt gar keine Debatte: Man muss alles tun, um den Leuten zu helfen. Diese Frage haben wir ja auch rückwärts gewandt: Hätten die Alliierten die Eisenbahnzufahrtswege nach Auschwitz bombardieren müssen? Wenn Sie mich ganz ehrlich fragen, als kühlen, rationalistischen, journalistischen Kopf, ob ich derartige Interventionen für erfolgreich oder sinnvoll halte, langfristig oder um Nation-Building zu betreiben: Nein, daran glaube ich nicht. Man kann kurzfristig reingehen, versuchen, die Lage zu beruhigen, den Vulkan der mörderischen Leidenschaften zu stoppen. Aber dann muss man so schnell wie möglich raus, damit die, die in diesem Vulkan leben, selbst lernen, damit umzugehen. In Afghanistan war es anfangs ganz gut, das haben auch alle Entwicklungshelfer gesagt, aber irgendwann, 2004 oder 2005, ist es gekippt. Wir haben völlig gescheiterte Interventionen wie in Somalia, halbgescheiterte wie in Bosnien, unklare wie im Kosovo. Wie es in der Zentralafrikanischen Republik oder in Mali wird, können wir noch nicht beurteilen.

Wörner: "It is time to act"Bild: AP

Später hat die internationale Gemeinschaft die Aufarbeitung des Genozids vorangetrieben: mit dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda. Auch in Deutschland und selbst in Frankreich gibt es nun Verfahren gegen Genozidäre. Wie beurteilen Sie diese späte Aufarbeitung?

Ich glaube, es ist gut für diese Welt, wenn kein Verbrecher dieser Größenordnung das Gefühl haben kann, dass er ungestraft davonkommt. Deshalb bin ich zum Beispiel der Meinung, dass ein 90-jähriger KZ-Wärter von Auschwitz auch heute noch vor Gericht gehört. Er hat damals sogar Zweijährige in die Gaskammer gesteckt - da zählt sein Alter für mich nicht. Den Grundgedanken des Internationalen Strafgerichtshofes, dass die Welt es nicht durchgehen lässt, finde ich also richtig. Ob er erfolgreich ist, steht auf einem anderen Blatt. Denn viele dieser Verbrecher haben ja jahrelang im Dunstkreis der internationalen Welt gelebt. Viele sind erst, als sie schwach wurden, vor Gericht gestellt worden. Und noch wieder andere sind niemals verfolgt worden.

Dr. Alexander Kudascheff ist seit Januar 2014 Chefredakteur der Deutschen Welle. Als Reporter reiste Alexander Kudascheff für die DW in viele Regionen der Welt. 1994 berichtete er aus Ruanda.

Das Interview führte Dirke Köpp.

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