Im DW-Interview spricht die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel über Klimawandel, ihren berühmten Satz "Wir schaffen das", etwas Wehmut und eine geordnete Amtsübergabe.
Anzeige
Im DW-Interview: Kanzlerin Angela Merkel
21:01
Entspannt und offensichtlich mit sich im Reinen: So präsentierte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Interview mit dem Leiter der Nachrichten der Deutschen Welle, Max Hofmann, im Kanzleramt in Berlin. Nicht lange überlegen musste sie bei der Frage, welche Herausforderungen für sie die schwersten ihrer Amtszeit gewesen seien. Persönlich am meisten herausgefordert hätten sie "der Fluchtdruck aus Syrien und aus den umliegenden Ländern, und dann die Corona-Pandemie". In beiden Fällen "hat man gesehen, wie das die Menschen direkt betrifft, wo man es mit menschlichen Schicksalen zu tun hat".
"Ja, wir haben das geschafft"
Auf die Frage, ob sie der Meinung sei, dass Deutschland den Zustrom von 800.000 Flüchtlingen im Jahr 2015 gemeistert habe - auf den sie damals mit dem berühmten Satz "Wir schaffen das" reagiert hatte - meinte sie: "Ja, wir haben das geschafft!" Nicht alles sei "ideal" gelaufen, aber viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer hätten mit angepackt.
Mit Blick auf die Migranten sagte Merkel: "Wir haben wunderbare Beispiele von gelungenen menschlichen Entwicklungen, wenn ich an Abiturientinnen und Abiturienten... denke." Selbstkritisch fügte sie hinzu: "Aber geschafft haben wir natürlich noch nicht, dass die Ursachen der Flucht bekämpft wurden. Wir haben es nicht nicht geschafft, dass Europa ein einheitliches Asyl- und Migrationssystem hat." Hier gebe es noch viel zu tun.
Beim Kampf gegen den Klimawandel "sehr, sehr viel schneller werden"
Auch als eine Art Krise ihrer Zeit als Kanzlerin bezeichnete es Merkel, dass immer mehr Menschen auf der Welt den Multilateralismus in Frage gestellt hätten: "Das war mir immer wichtig und ich habe immer versucht, die internationalen Organisationen zu stärken, den IWF, die Weltbank, die Welthandelsorganisation und andere." Und beim immer drängender werdenden Thema des Kampfes gegen den Klimawandel räumte die Kanzlerin ein: "Wir müssen sehr, sehr viel schneller werden."
Merkel war vor ihrer Zeit als Kanzlerin Umweltministerin und hatte etwa den ersten UN-Klimagipfel 1995 in Berlin geleitet. Jetzt sagte sie: "Wir müssen wieder den wissenschaftlichen Einschätzungen folgen, und das heißt eben sehr nah bei 1,5 Grad Erderwärmung bleiben."
Junge Leute "müssen Druck machen"
Merkel hatte zuletzt die diesjährige UN-Klimakonferenz besucht, die noch bis Mitte November im schottischen Glasgow stattfindet: "Glasgow hat schon einige Ergebnisse gebracht", sagte sie, "aber aus der Perspektive junger Leute geht es berechtigterweise immer noch zu langsam." Überraschend deutlich fügte Merkel an: "Und dann sage ich den jungen Leuten: Sie müssen Druck machen."
Angela Merkel: ein Rückblick in Bildern
04:53
This browser does not support the video element.
Ein Eingeständnis, persönlich in der Klima-Politik gescheitert zu sein, war das aber nicht. Denn die Kanzlerin fügte an, dass man für jede Klimaschutzmaßnahme auch Mehrheiten bekommen müsse, und dass es viele Ängste vor den sozialen Folgen harter Einschnitte etwa beim privaten Konsum gebe. "Ja, ich war eigentlich immer dran", erklärte sie, "und trotzdem kann ich heute nicht sagen, das Ergebnis ist schon befriedigend." Sie habe auch zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Einschätzungen der Wissenschaftler mit jedem Bericht "immer noch schlechter waren und schrecklicher".
Anzeige
Nur noch kurze Zeit im Amt
Seit kurzem ist die deutsche Langzeit-Regierungschefin nur noch geschäftsführend im Amt, der neue Bundestag hat sich konstituiert. Auf das Reichstagsgebäude konnte Merkel 16 Jahre lang aus ihrem Amtszimmer blicken. Bei der Bundestagswahl Ende September diesen Jahres war sie nicht noch einmal als Kanzlerkandidatin der Unionsparteien CDU/CSU angetreten. Die Wahl gewannen dann die Sozialdemokraten knapp vor der Union.
Abschiedsempfang in Frankreich "ein schönes Erlebnis"
Zuletzt hatte Merkel mehrere Staats- und Regierungschefs auf Abschiedsreisen besucht, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron etwa lud die Kanzlerin ins Städtchen Beaune in Burgund ein und überreichte ihr später das Großkreuz der Ehrenlegion, die höchste Auszeichnung in Frankreich.
Im DW-Interview sagte Merkel unumwunden, dass sie das berührt habe: "Ich weiß schon, dass es auch Menschen gibt, die mit meiner Politik nicht so zufrieden sind. Aber wenn man jetzt so in Frankreich ist, wo natürlich auch in der Geschichte wir oft nicht so freundschaftliche Gefühle füreinander hatten, da hat es mich schon gefreut, dass so viele Menschen gekommen sind, um den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und mich zu begrüßen. Und das war ein schönes Erlebnis, das muss ich sagen."
Merkels "beruhigendes Signal" an die Welt
Beim G20-Treffen vor gut einer Woche in Italien hatte Merkel sich mehrfach demonstrativ mit ihrem wahrscheinlichen Nachfolger Olaf Scholz von der SPD gezeigt, den noch amtierenden Finanzminister ihrer Regierung. Der Sozialdemokrat verhandelt in Berlin gerade mit den Grünen und der FDP über eine neue Regierung unter seiner Leitung.
Merkel sagte jetzt über die Tage beim G20-Gipfel in Rom, ihr sei dabei eine Botschaft an die Menschen wichtig gewesen: "Wenn sie dann das Gefühl haben, hier gibt es einen guten Kontakt zwischen der jetzigen Regierungschefin und dem wahrscheinlich zukünftigen, dann ist das ein beruhigendes Signal in einer ziemlich turbulenten Welt. Und das fand ich richtig."
Zum Abschied: "Sie werden sich dran gewöhnen!"
Auf die Frage von Max Hofmann, was sie tun werde, wenn sie bald nicht mehr im Amt sei, sagte Merkel: "Jetzt weiß ich noch nicht, was ich danach mache. Ich habe ja gesagt, ich werde mich erst mal ein bisschen ausruhen und mal gucken, was mir so in den Kopf kommt." Sie werde viel lesen und schlafen. Schon mehrfach hatte Merkel betont, dass sie glaube, recht gut von der Macht lassen zu können, das wiederholte sie jetzt im DW-Interview, "eines der letzten" als Bundeskanzlerin.
Sie sei auf der einen Seite froh, gab aber auch zu: "Aber ein kleines bisschen Wehmut wird sicherlich dann auch kommen, denn ich habe meine Arbeit immer gern gemacht, mache sie auch noch gern." Bis zum letzten Arbeitstag müsse sie weiter aufmerksam sein. Und auf die Bemerkung Hofmanns, man könne sich gar nicht vorstellen, dass nach 16 Jahren Merkel nicht mehr im Kanzleramt sitze, sagte die Noch-Regierungschefin in ihrer oft erlebten nüchternen Art und mit einem Lächeln: "Sie werden sich dran gewöhnen."
16 Kanzlerinnenjahre
Seit 2005 ist Angela Merkel Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Vier Regierungen hat sie seitdem geführt. Und sie ist heute beliebter denn je. Stationen einer Kanzlerschaft, die bald zu Ende geht.
Nicht mehr Kohls "Mädchen"
Bundeskanzler Helmut Kohl hatte Merkel einst paternalistisch das "Mädchen" genannt und sie zwei Mal zur Ministerin gemacht. Aus seinem Schatten war sie hier, 2001, schon längst herausgetreten, als die CDU in der Opposition und Merkel Parteichefin war. Aber ihre große Stunde sollte erst 2005 kommen.
Bild: picture-alliance/dpa/M. Jung
Knapper Wahlsieg
Bundestagswahl 2005: Der Wahlsieg der Union aus CDU und CSU gegenüber der SPD unter Bundeskanzler Gerhard Schröder war äußerst knapp. Die CDU mit Kanzlerkandidatin Angela Merkel hatte außerdem das schlechteste Ergebnis seit 1949 eingefahren. Keine guten Bedingungen für den Start der neuen Kanzlerin. Aber sie fasst schnell Tritt.
Bild: Stefan Sauer/dpa/picture alliance
Die neue Kanzlerin
Schließlich tun sich Union und SPD zu einer großen Koalition zusammen. Schröder gratuliert der frischgebackenen Kanzlerin Angela Merkel, die am 22. November 2005 im Bundestag zur ersten Frau, zur jüngsten Amtsinhaberin, zur ersten Ostdeutschen und zur ersten Naturwissenschaftlerin in dieses Amt gewählt wird.
Bild: picture-alliance/AP Photo/F. Reiss
Entspannte Gastgeberin
Merkel gewinnt schnell Souveränität. Beim G8-Gipfel 2007 empfängt sie die Staats- und Regierungschefs der sieben wichtigsten Industriestaaten und Russlands im Ostseebad Heiligendamm und scherzt mit US-Präsident George Bush (l.) und Russlands Präsident Wladimir Putin. Geopolitisch ist es eine weitaus heilere Welt als heute.
Bild: Toshifumi Kitamura/AFP/Getty Images
Farbenspiele
Auf die Blazerfarbe kommt es an. Die Farbe ihrer Hosen bleibt meist dunkel. Was sich ändert, ist der Blazer. Kenner meinen aufgrund dieser Farbe sagen zu können, in welcher Stimmung die Kanzlerin gerade ist oder welche Botschaft sie gerade vermitteln will.
Bild: picture-alliance/AP Photo/M. Schreiber
Ach, diese großen Jungs!
Europapolitik im Herbst 2008: Angela Merkel hat für zwei Machos der europäischen Bühne, Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy (vorn) und Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi, nur ein mildes Lächeln übrig. Dabei ist sie es, die hier beim Beginn der Finanzkrise sehr schnell zur unangefochtenen Nummer eins in der EU aufsteigt.
Bild: Getty Images/AFP/G. Cerles
Helfer oder Zuchtmeister?
Die Schulden vieler europäischer Staaten steigen immer mehr, der Euro gerät in Gefahr. Merkel stimmt umfangreichen Hilfen zu, verlangt aber im Gegenzug Sparmaßnahmen in den betroffenen Ländern. Das weckt vor allem in Griechenland bittere Erinnerungen. Griechische Zeitungen ziehen Parallelen zur deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg.
Bild: picture-alliance/dpa/O. Panagiotou
Keine Volkstribunin
Sie ist eine nur mäßig begabte Rednerin. Das Bad in der Menge liegt ihr nicht besonders. Sie wirkt oft spröde, erklärt ihre Politik zu wenig. Doch ihre nüchtern-pragmatische und bescheidene Art kommt bei vielen an. Sonst würde sie heute nicht die vierte Regierung führen.
Bild: picture-alliance/dpa/F. Gentsch
Mutti
Irgendwann wird sie Mutti genannt. Nicht die Mutter, sondern die Mutti der Nation. Das ist ein wenig spöttisch, oder auch liebevoll - und altmodisch: Mutti sagt heute kein Kind mehr. Die Mutti kümmert sich, bei ihr braucht man keine Angst zu haben. Die Kehrseite: Unter Mutti bleiben die Kinder immer Kinder. Nicht jedem gefällt das.
Bild: picture-alliance/dpa/U. Anspach
"Wir schaffen das"
Vielleicht kein anderer Satz von ihr hat so polarisiert wie "Wir schaffen das". Als sie 2015/16 die Grenzen für Flüchtlinge und Migranten offenhält, wird sie von den einen fast wie eine Heilige verehrt, von anderen heftig kritisiert. Die Spaltung in der Bewertung ihrer Flüchtlingspolitik hält bis heute an.
Bild: Getty Images/S. Gallup
"Person des Jahres" 2015
Das Magazin "Time" kürt Merkel 2015 zur "Person des Jahres", gar zur "Kanzlerin der freien Welt" für ihre Führungsstärke in schwierigen Situationen - von der Staatsschulden- bis zur Flüchtlingskrise.
Bild: picture-alliance/AP Photo/Time Magazine
Frauen unter sich
Sie ist die erste Frau im Kanzleramt. Zwar hat sie daraus nie ein großes Thema ihrer Politik gemacht. Trotzdem haben einige Frauen auch dank Merkels Förderung eine steile Karriere hingelegt, seien es (v. l.) Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU-Vorsitzende und dann Verteidigungsministerin), Ursula von der Leyen (EU-Kommissionspräsidentin) oder Julia Klöckner (Landwirtschaftsministerin).
Bild: picture-alliance/M. Schreiber
Staatsräson
Merkel ist diskret. Was sie politisch oder persönlich von schwierigen Staats- und Regierungschefs hält, darüber schweigt sie, gibt höchstens sehr verklausuliert Meinungen von sich. Der Umgang mit ihnen folgt der Staatsräson.
Bild: picture-alliance/C. Hartmann
Eitelkeit ist ihr fremd
Sie weiß, was ein Liter Milch kostet. Abgehoben ist Angela Merkel auch nach Jahren als Regierungschefin nicht. Zwar besucht sie hier 2014 zusammen mit ihrem chinesischen Staatsgast Li Keqiang einen Berliner Supermarkt. Sie wurde aber auch schon allein, sozusagen als Hausfrau, beim Einkaufen gesehen.
Bild: picture alliance/dpa/L.Schulze
Die Raute des Vertrauens
Nicht ganz klar ist, woher Merkel ihre berühmte Handhaltung hat. Sie selbst sagt, die Raute helfe ihr, den Oberkörper gerade zu halten. Eine weitergehende Botschaft liege nicht darin. CDU-Parteistrategen haben jedenfalls die Raute im Bundestagswahlkampf 2013 auf diesem übergroßen Plakat eingesetzt, um Vertrauen und Ruhe zu vermitteln.
Bild: picture-alliance/dpa/S. Simon
Merkel privat
Kaum etwas ist von Merkels Privatleben bekannt. Sie gibt wenig davon preis, vielleicht interessiert es die Leute auch nicht besonders. Man weiß zum Beispiel, dass Merkel und ihr Mann Joachim Sauer, Physiker wie sie, über Jahre Ostern auf der italienischen Insel Ischia verbringen. Während der Hochzeit der Pandemie ging das allerdings nicht.
Bild: picture-alliance/ANSA/R. Olimpio
Und dann kam Corona
Corona hat vieles verändert in Deutschland, nicht nur die Urlaubsrituale der Kanzlerin. Merkels ernste, teilweise ungewohnt emotionale Art dabei wurde teilweise kritisiert. Doch ihr Umgang mit der Pandemie hat ihr auch neue Beliebtheitsrekorde eingebracht.
Bild: Johanna Geron/Reuters
Nahender Abschied
Sie hatte schon Jahre vor der Bundestagswahl 2021 bekanntgegeben, dass sie nicht wieder kandidieren werde. Jetzt ist sie nur noch geschäftsführend im Amt, bis eine neue Regierung steht und ein neuer Bundeskanzler gewählt ist. Ist sie Mitte Dezember noch kommissarisch im Amt, hätte sie den bisherigen Rekordhalter Helmut Kohl knapp überholt.