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Politik

Global Media Forum: Welthungerkrise im Fokus

21. Juni 2022

Der US-Historiker Timothy Snyder setzt Putins Blockade der Weizenlieferungen aus der Ukraine mit Stalins Hungerterror gleich. Und mahnt in seiner Rede vor dem DW Global Media Forum aktivere Berichterstattung an.

GMF 2022 | Timothy Snyder
Traditionell ukrainisch gekleidet: der US-Historiker Timothy Snyder auf dem DW Global Media ForumBild: Philipp Boell/DW

Mit einem eindringlichen Appell zur Berichterstattung über Russlands Krieg in der Ukraine und der sich dadurch entwickelnden weltweiten Hungerkrise endete in Bonn das Global Media Forum (GMF) der Deutschen Welle. "Dies ist eine Katastrophe, die uns in den kommenden Wochen und Monaten bevorsteht", sagte der US-Historiker Timothy Snyder in einer mit großer Spannung erwarteten Rede. Der Zeithistoriker und Osteuropa-Experte erklärte die Weizenblockade Russlands gegenüber der Ukraine im Schwarzen Meer als koloniale Politik Moskaus, die eine direkte Linie in den Stalinismus Anfang der 1930er Jahre bilde.

Er zog Parallelen zu Stalins Hungerterror in der sowjetischen Ukraine, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Damals habe es allerdings keine Journalistinnen und Journalisten gegeben, die die Welt auf die in die ukrainische Geschichte als "Holodomor" eingegangene Hungerkatastrophe aufmerksam gemacht hätten. Dieses und das kommende Jahr werde nun von einer neuerlichen Hungerkatastrophe geprägt sein - als Folge von Russlands kolonialer Politik: Dem Angriffskrieg in der Ukraine und die Blockade der ukrainischen Häfen durch die russische Schwarzmeerflotte etwa vor Odessa.

Snyder forderte die in Bonn versammelten Journalistinnen und Journalisten, davon viele vom afrikanischen Kontinent, auf - "diese Geschichte zu berichten". Gerade die Menschen außerhalb der Ukraine, in Afrika und anderswo müssten durch freie Informationen aufgeklärt werden. Anders als noch zu Zeiten Stalins. Damals "beschuldigte die sowjetische Propaganda die Ukrainer selbst" für die Hungerkatastrophe verantwortlich zu sein. Schon damals seien die Ukrainer als "Nazis" beschimpft worden - wie heute. Auch jetzt wieder versuche Russlands Propaganda das eigentliche Opfer, die Ukrainerinnen und Ukrainer, zu beschuldigen.

14 Millionen Tote bis 1954

Snyder beschrieb zudem eine historische Verbindung zum deutschen Nationalsozialismus und Hitlers späterem Feldzug gegen die sowjetische Ukraine. "Die koloniale Hungersnot von 1932 und 1933 war eine Inspiration für Adolf Hitler - auch sein wichtigstes Ziel war, die Agrargebiete des ukrainischen Territoriums zu beherrschen."

Alternativroute? Im rumänischen Konstanza soll mehr Getreide aus der Ukraine umgeschlagen werdenBild: Daniel Mihailescu/AFP/Getty Images

Timothy Snyder hat mit seinem Buch "Bloodlands - Europa zwischen Stalin und Hitler " erstmals in einer umfangreichen zeithistorischen Analyse das Leid der Menschen zwischen Deutschland und Russland im Zweiten Weltkrieg analysiert. Allein 14 Millionen Opfer sind in Ostmitteleuropa, Belarus und der Ukraine zunächst dem deutschen Vernichtungsfeldzug im Osten und bis 1954 dann dem Stalinismus zum Opfer gefallen.

Snyder: Afrikanische Journalisten sollen aus Kiew berichten

Snyder, der bei seinem Vortrag ein traditionelles ukrainisches Hemd, die Wyschywanka trug, gilt als ausgewiesener Ukraine-Kenner und fordert ein stärkeres Engagement des Westens für das von Russland mit einem Krieg belegten Land. Sein Impulsreferat zum Abschluss des DW GMF hatte Snyder mit den Worten "Berichterstattung in Krisenzeiten: Erfahrungen aus der Vergangenheit - Ideen für die Zukunft" betitelt.

Zwei Tage intensiver Diskussionen: das DW Global Media Forum 2022 in BonnBild: Ronka Oberhammer/DW

Für ihn sei jetzt für die Berichterstattung entscheidend, "besser als Moskau Herr des Narrativs zu werden - dafür ist es wichtig, dass jeder eine Stimme hat". Gerade Journalisten aus afrikanischen Ländern, die selbst aus Kiew berichten sollten. Die Welthungerkrise entstehe "wegen dieses Krieges". Und "wenn wir die entscheidenden Momente der ukrainischen Geschichte kennen, kann das nicht verwundern".

Erinnerung an getötete Journalisten

Bereits zum Auftakt des zweiten Kongresstages ging es im Kern um Snyders Analyse - aus Sicht der Kriegsberichterstatter und Reporterinnen. Aus der Ukraine war der stellvertretende Chefredakteur der deutschen Boulevardzeitung Bild, Paul Ronzheimer, zugeschaltet, der derzeit wieder aus dem Osten des Landes berichtet. Dort steht die ukrainische Armee unter dem Druck heftiger russischer Artillerieangriffe. Ronzheimer erinnerte an die in diesem Krieg getöteten Journalistinnen und Journalisten. Wie den US-Kameramann Pierre Zakrzewski und die TV-Producerin Oleksandra Kuvshynova, die im Frühjahr nördlich von Kiew bei einem russischen Angriff getötet worden sind. Er habe Zakrzewski noch kurz vorher in seinem Kiewer Hotel gesprochen, dann sei er nicht mehr zurückgekommen.

Blumen bei der Bestattung von Pierre Zakrzewski, Kameramann des US-Senders Fox NewsBild: Damien Storan/empics/picture alliance

Ronzheimer, dessen Verbindung in den Konferenzsaal zwischenzeitlich unterbrochen war, erinnerte auch daran, dass er als internationaler Journalist die Kriegszone auch wieder verlassen könne - anders als die vielen ukrainischen Mitarbeiter großer Nachrichtenorganisationen. Ihnen müsse deshalb besondere Aufmerksamkeit gelten, sie müssten besonders geschützt werden, um überhaupt unabhängige Berichterstattung zu ermöglichen.

Sicherheit hat Vorrang vor Exklusivität

Die Sicherheit der Mitarbeiter und die kritische Überprüfung der Quellenlage habe für ihn Vorrang vor Schnelligkeit und Exklusivität, sagte bei der gleichen Diskussionsrunde Dmitri Dubov, der Chefredakteur des russischsprachigen Senders Channel 9 aus Israel. Dubrov verlangt von seinen Krisenreportern in Israel, sich zunächst auf die menschlichen Zusammenhänge, die Emotionen in Krisensituationen zu konzentrieren. Auf den notwendigen Faktencheck konzentrierten sich die Redakteure in seiner Nachrichtenredaktion.

Dmitri Dubov vom israelischen Sender Channel 9Bild: R.Oberhammer/DW

Paradoxerweise könne der Fokus auf Einzelschicksale zum Beispiel nach einem Anschlag traditionellen Medienhäusern helfen, Vertrauen zurück zu gewinnen. "Es hilft auch, Desinformation zu bekämpfen, weil wir über das Schicksal individueller Menschen berichten, die gerade in diesem Moment den Konflikt erleben. "

Russlands Krieg im Messengerdienst

Wie wichtig gerade in Russlands Krieg gegen die Ukraine ausgewogene Quellenkritik ist, bemerkte Dmytro Khilchenko, der für den öffentlich-rechtlichen Sender UA:PBC in der Ukraine arbeitet. "Dieser Krieg geschieht online: Bei den Messengerdiensten Whatsapp und Telegram. " Dort werden Videos direkt von der Front hochgeladen - getötete Soldaten, zerstörtes Kriegsgerät. "Man kann alles nahezu live verfolgen." Es gebe viele Quellen, "doch wie verstehen wir, wem wir vertrauen können oder nicht? " Dies erfordere intensive journalistische Arbeit in den Nachrichtenredaktionen, bei der auch Fehler passierten.

Neben den Krisen der Welt, dem Krieg in der Ukraine, beherrschte immer wieder das Thema Diversität und Stereotypen dieses DW Global Media Forum. So kritisierten Diskutanten unter der Überschrift "Die Macht von Stereotypen", wie sehr in westlichen Medien die Berichterstattung über Armut und Hunger das Bild der Länder des afrikanischen Kontinents bestimmten. Konstruktive Lebensansätze in Afrika würden jetzt schon wieder durch die Berichterstattung über mögliche Folgen der Nahrungskrise im Zuge von Russlands Angriff auf die Ukraine verdrängt.

Wider die Stereotype und Vorurteile

Dabei sei es gerade in der Zeit globaler Kriege wichtig, dass sich Journalistinnen und Journalisten die Frage stellten, "wie kann ich eine völlig andere Story aus Afrika berichten?", sagte Moky Makura in dieser Gesprächsrunde. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Welt könne so genutzt werden, um eine andere Lebensrealität aus afrikanischen Ländern zu zeigen, so die Leiterin des Online-Portals Africa No Filter. Die langjährige TV-Produzentin und Moderatorin aus Nigeria mit Lebensstationen in London und  Johannesburg versucht mit konstruktiver Berichterstattung, andere Themen auch bei weltweit arbeitenden Nachrichtenorganisationen zu setzen. Es sei ihr Weg auch gegen Rassismus und Vorurteile im Westen zu arbeiten.

Dabei brachte einer der GMF-Gäste bei der anschließenden Fragerunde gleich eine persönliche Erfahrung von diesem Tag in das Kongresszentrum. Er sei beim Einstieg in den Bus auf dem Weg in das Bonner World Congress Center als einziger nach einem Fahrschein gefragt worden. Wegen seiner schwarzen Hautfarbe, so sein Eindruck. Er frage sich immer, ob er in solchen Situationen direkt eine persönliche Ebene mit dem Gegenüber einnehmen und ein klärendes Gespräch anmahnen solle, "auch um die Menschen zu erziehen". Für Moky Makura war die Antwort klar: Sie gehe als "woke" immer in solche Konflikte - am Ende müsse das aber jeder für sich selbst entscheiden.

Snyder: aktive Einmischung nötig

Timothy Snyder plädierte in seiner Rede zum Ende des Global Media Forums klar für aktive Einmischung. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 sei der große Fehler begangen worden, zu glauben, dass sich die liberalen Demokratien durchsetzen würden. Es sei anders gekommen. Und auf eine Frage eines Teilnehmers aus Afrika, wie er denn überhaupt in die Ukraine gelangen könne, um sich dort als Berichterstatter für seine Heimat zu engagieren, forderte Snyder die freie Welt auf, genau das möglich zu machen: "Ich flehe sie an!" Es müsse deutlich gemacht werden, wer für eine weltweite Hungerkatastrophe verantwortlich sei: die russischen Schwarzmeerflotte mit ihrer Weizenblockade.

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