"Heimat kann man sich nicht aussuchen"
20. Dezember 2018In den vergangenen zwölf Monaten ist wieder viel über den Begriff "Heimat" diskutiert worden. Einerseits wegen der anhaltenden Debatte über Flüchtlinge und rechtsradikale Ausschreitungen. Vordergründig auch wegen der Entscheidung Horst Seehofers, sein Innenministerium um den Zusatz "Heimat" zu ergänzen.
Den Begriff "Heimat" hatte der deutsche Regisseur Edgar Reitz 1984 in den Fokus gestellt. Durch seine auch weltweit erfolgreiche Film-Serie "Heimat" diskutierten die Deutschen damals plötzlich wieder über einen lange tabuisierten Begriff. Ein Gespräch mit Edgar Reitz, 34 Jahren nach der Welturaufführung von "Heimat", angesichts neuer, aktueller Heimat-Debatten.
Deutsche Welle: Sie sind ja inzwischen so etwas wie ein Heimat-Experte. Fühlen Sie sich in der Rolle eigentlich wohl?
Edgar Reitz: Manchmal bedauere ich, dass ich meinen Film "Heimat" genannt habe. Ich war damals der Meinung, dass wir als Nation "dieses Ding" (Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit etc., Anm. d. Red.) überwunden haben und ich hätte Stein und Bein geschworen, sowas kommt nie wieder vor, auch nicht annähernd als Gefahr. Insofern hielt ich das zum damaligen Moment, 1984, für machbar: Das Thema einmal außerhalb der Politik aufzugreifen, Heimat als ein elementar menschliches Gefühl und Bedürfnis zu diskutieren. Heimat als eine Tatsache, dass sich mit der eigenen Biografie Bindungen ergeben, die nicht nur aus der Zweckmäßigkeit oder aus rationalen Gründen bestehen, sondern auch dort, wo eine tiefe emotionale Bindung entsteht - zur Landschaft, zu der Lebensweise eines Volkes an bestimmten Orten, zur Sprache, die sich herausbildet. Für mich war zum Beispiel auch die Mundart immer etwas sehr Wichtiges, weil sich in den Dialekten gerade emotional Dinge ausdrücken lassen, die in der Hochsprache nicht existieren.
Wie wurde damals über Ihren Titel "Heimat" diskutiert? Und was hat sich seitdem verändert?
1984, als "Heimat" veröffentlicht wurde, war das schon ein heißes Thema. Man stellte sich die Frage: Können wir das schon anfassen oder besser doch noch nicht? Es gab große Zurückhaltung, auch beim WDR (Fernsehanstalt Westdeutscher Rundfunk, Co-Produzent von "Heimat", Anm. d. Red.), es gab dort intensive Diskussionen: Können wir das ganze "Heimat" nennen? Oder weckt das zu viele Emotionen oder Gefühle, die wir überwinden wollen?
Heute ist genau das, was wir damals befürchtet haben, wieder aufgeflammt. Ich würde heute meinen Film nicht mehr "Heimat" nennen. Gegen diese anbrandende Wucht von Inbesitznahme, die da stattfindet, kann sich ein einzelner Film nicht verteidigen. Auch ein einzelner Künstler kann das nicht.
Inwiefern wird der Begriff zweckentfremdet?
Weil er zur Ausgrenzung benutzt wird. Heimat ist in diesem Sinne kein Besitz. Das kann man nicht als Eigentum definieren. Aber das ist das, was gerade geschieht. Es ist eine Gartenzaun-Ideologie. Man macht um das, was man Heimat nennt, rundum einen Gartenzaun und sagt: Jeder, der den übertritt, betritt sozusagen meine Sphäre, die ist nicht teilbar mit anderen Menschen. Und das war bei mir nie so: Für mich ist Heimat das Haus, dessen Türen nie verschlossen sind.
Bei meiner Großmutter gab es keinen Haustürschlüssel. Man hat die Tür nicht zugemacht. Wenn wirklich böse Leute kamen, und das gab es ja immer, es gab Kriege, brandschatzende Horden, die über das Land hergefallen sind, da half auch kein Türschloss. Also, man hat die Tür immer offen gehabt - und jeder kam und ging. Und dieses Gefühl, im Haus der Großmutter zu sein, war immer ein Gefühl: Es kommt jeden Moment jemand zur Tür herein. Das ist ja auch die erste Szene in "Heimat" von 1984.
Das ist ein Gefühl eines gewissen Miteinanders, natürlich nicht konfliktfrei. Heimat war nie ein konfliktfreier Ort, es war nie ein Paradies oder eine Idylle, sondern es war einfach der Raum des Lebens. Und jeder Mensch wusste vom anderen, dass der andere auch seine Heimat hat.
Heimat darf man niemals verwechseln mit Nation, man darf es nicht verwechseln mit irgendeiner Art von politisch definierbarem Raum. Es ist ein mütterlicher Raum. Das ist nicht das Vaterland, sondern das Mutterland. Es heißt ja auch die Heimat.
Sie haben das Thema Heimat ja dann 1992 in "Die zweite Heimat" variiert, indem sie ihre Protagonisten vom Hunsrück nach München ziehen lassen. Was ist das für Sie: die zweite Heimat?
Das, was wir die zweite Heimat nennen, das beruht darauf, dass wir nicht nur im Schoß der Familie geboren werden, sondern auch in unserem eignen Kopf, da wo wir Freiheit empfinden. Da, wo wir uns auf die eigenen Füße stellen und uns in der Welt bewegen, sind wir in der Lage, eine zweite Heimat zu bilden. Das sind mehr oder weniger bewusste Entscheidungen, zumindest von mir abhängige Entscheidungen. Wer mein Bruder ist, kann ich nicht entscheiden. Wer mein Freund ist, kann ich aber entscheiden. Beziehungen, die ich im Erwachsenenalter knüpfe, auch in der Partnerwahl, sind Ausdruck der Freiheit.
Diese zweite Heimat ist sehr viel bedeutsamer geworden für uns heute als die erste. Die erste Heimat sinkt sozusagen ins Mythologische. Das ist von Dunkelheit oder schwer definierbaren Gefühlen umgeben, deswegen auch ideologisierbar und missbrauchbar.
Das, was wir die zweite Heimat nennen, können wir jederzeit definieren. Dazu können wir jederzeit Stellung nehmen und wir können sie auch ändern. Wenn zum Beispiel die politischen Verhältnisse oder die Lebensbedingungen in einem Land unerträglich werden, so wie ich es in meinem letzten Film ("Die andere Heimat", 2013) beschrieben habe, was heute an tausenden Orten der Welt geschieht, können die Menschen entscheiden, einen neuen Lebensraum zu suchen. Und diesen zu finden, ist wiederum nicht nur ein rationaler Akt. Auch da geht es nicht nur darum, ob die Lebensbedingungen stimmen, sondern da müssen auch wieder emotionale Bindungen entstehen dürfen, da muss auch Frieden und Sicherheit entstehen.
Seit Johann Wolfgang von Goethe nennen wir das "Wahlverwandtschaften" (Goethes Roman von 1809): Dass man sich einer bestimmten Anzahl von Menschen so nah fühlt, wie den Eltern oder den Geschwistern. Das kann sogar tiefer gehen. Die selbst gewählte Zugehörigkeit zu anderen Menschen kann in unserer modernen Welt tiefer greifen, in den Herzen und im Verstand. Deswegen ist die Bildung von zweiten Heimaten eine kulturelle Leistung, aus der heraus ganz viel Produktivität entsteht. Überall dort, wo wir das beobachtet haben, wo Menschen das schaffen, werden sie auch produktiv. Sie sind sowohl wirtschaftlich als auch kulturell aktiv.
Heimat gilt als Begriff der deutschen Sprache, der sich nur schwer übersetzen lässt. Wie sind Sie damit umgegangen?
Wir haben damals natürlich das Problem gehabt, den Titel zu übersetzen. Da die Filmreihe "Heimat" ab 1984 um die Welt gegangen ist, stand man in vielen Ländern vor der Frage: Gibt es ein Äquivalent zum deutschen Wort? Es ist offensichtlich so, dass es in den romanischen Sprachen und auch im Englischen kein Äquivalent gibt. Es lässt sich nicht übersetzen. Im Russischen oder im Polnischen gibt es das, in islamischen Sprachen auch. So kommt man natürlich ins Nachdenken bei solchen Diskussionen. Woran mag das liegen?
Wir sind dann dazu übergegangen, es einfach nicht mehr zu übersetzen. Der Film lief in allen Ländern damals auch mit dem deutschen Titel Heimat. Was dann dazu führte, dass besonders viel diskutiert wurde: Was heißt das denn - Heimat?
Löst Heimat in der Fremde einen Reflex aus, sich viel stärker mit der Heimat zu beschäftigen?
Ja, da weitet sich die Heimat auch aus. Also wenn man irgendwo in der Türkei geboren ist, dann hat man vielleicht gar nicht so das Gefühl von Nation, sondern eher eine Bindung an das Dorf und an die Familie, das ist im Vordergrund. Sobald man aber weit weg ist, schrumpft das Land und die Vorstellung davon, und irgendwann ist der Begriff Heimat dann identisch mit Nation.
Innenminister Horst Seehofer (CSU) hat in diesem Jahr sein Ministerium auch Heimatministerium genannt. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Da war ich erschrocken (lacht). Ich glaube nicht, dass so ein Begriff, wenn er von Politikern benutzt wird, wirklich hilft. Also wenn zum Beispiel die CSU darunter versteht, ländliche Regionen technologisch aufzurüsten und an den internationalen Konsumstrom anzuschließen - da wird Heimat eigentlich zerstört oder zumindest wird dieser Begriff hohl. Einen Heimatbegriff für dieses zuständige Ministerium mag ich überhaupt nicht haben. Das banalisiert diesen Begriff auf eine so lächerliche Art, dass ich sage: Da möchte ich lieber gar keine Heimat haben, als unter dem Horst Seehofer zu sein.
Das Gespräch führte Jochen Kürten.