Ein Abt und "#MeToo" in China
2. August 2018Der buddhistische Tempel Longquan, Tempel des Drachenbrunnens, ist ein ruhiges Plätzchen in einem nordwestlichen Vorort der hektischen Hauptstadt Peking. Gläubige kommen von Nah und Fern, um das spirituelle Leben im eigentlich atheistischen China zu erfahren und um die Nähe Buddhas, des Erleuchteten, zu suchen.
Doch ein Verdacht beschädigt das hohe Ansehen der heiligen Stätte, die im 10. Jahrhundert erbaut wurde. Zwei Mönche aus dem Tempel, die im früheren bürgerlichen Leben an der renommierten Tsinghua-Universität im Fach Ingenieurwissenschaften promoviert wurden, erheben schwere Vorwürfe gegen den Abt: Sexuelle Belästigung und Nötigung unter Ausnutzung einer Zwangslage, Veruntreuung und Millionenbetrug.
Die Anschuldigungen
Die Anschuldigungen wurden in einem 95-seitigen Dokument im Internet veröffentlicht, das der DW vorliegt. Es besteht aus fünf Kapiteln mit fünf Anhängen. Screenshots und Chatprotokolle der Opfer sollen die Anschuldigungen untermauern.
Der Abt nutzte laut dem Internet-Text das Abhängigkeitsverhältnis weiblicher Gläubigen aus, um sie zum Sex zu zwingen. Kontoauszüge aus den Jahren 2015 und 2016 sollen zeigen, dass insgesamt zehn Millionen Yuan (etwa 1,3 Millionen Euro) auf das Privatkonto des Abts geflossen sind. Polizeiliche Ermittlungen sind bisher nicht eingeleitet worden. Die staatliche Administration für Religiosnangelegenheiten kündigt am Donnerstag (02.08.) an, die Unterlagen zunächst auf Echtheit zu prüfen.
Zensur für Kader-Buddhist
Der beschuldigte Abt heißt Shi Xuecheng. Der Name bedeutet etwa "Aufrichtigkeit in der buddhistischen Familie Shi". Alle Mönche in China tragen den religiösen Nachnamen Shi, eine Abkürzung des Nachnamens von Shakyamuni, dem Begründer des Buddhismus.
Xuecheng ist ein mächtiger Kader-Buddhist. Der 51-Jährige ist Vorsitzender der Buddhistenvereinigung Chinas. Die verwaltet landesweit nicht nur 33.000 Pagoden, sondern steht auch den rund 240.000 Mönchen vor. Nach offiziellen Angaben leben in China 100 Millionen Buddhisten.
Xuecheng ist aber nicht nur innerhalb der buddhistischen Gemeinde, sondern auch politisch gut vernetzt. Als Vizevorsitzender des "Ausschusses für Religionen und ethnische Minderheiten" in der chinesischen Konsultativkonferenz, dem Scheinparlament, steht er der Kommunistischen Partei Chinas nah.
Der Abt wird durch die Zensur geschützt. Im chinesischen Internet ist von den konkreten Vorwürfen schon nichts mehr zu lesen. Allerdings ließ Xuecheng in einer schriftlichen Stellungnahme des Longquan-Tempels wissen, dass er sämtliche frei erfundenen Vorwürfe entschieden zurückweist. Ferner habe er Strafanzeige wegen Verleumdung erstattet. Sämtliche Unterlagen seien gefälscht.
Männlich, mächtig
Die "#MeToo"-Bewegung ist schon seit längerem im Reich der Mitte angekommen, ohne allerdings eine nachhaltige Wirkung zu entfalten. Viele Vorwürfe zu sexuellen Übergriffen wurden bekannt. In der Kritik stehen Regisseure, Professoren und TV-Moderatoren. Die Beschuldigten haben vieles gemeinsam. Es handelt sich fast immer um Personen des öffentlichen Lebens, die reich und gut vernetzt sind wie auch der Abt Xuecheng. In keinem Fall kam es zu einem Urteil.
Aufgrund des mächtigen Zensurapparats könne keine öffentliche Debatte geführt werden, sagt eine Aktivistin der Pekinger Bürgerrechtsgruppe "Stimme der Frauen", die anonym bleiben will. Die Nichtregierungsorganisation steht nämlich selbst unter Druck. Ihre Benutzerkonten auf den sozialen Medien wurden über Nacht gesperrt.
Internet als letzter Ausweg
"Unabhängige Berichte zu den Vorwürfen gibt es nicht", sagt die anonyme Aktivistin der Deutschen Welle weiter. "Meldungen über '#MeToo'-Vorfälle haben im Netz ohnehin nur eine kurze Lebensdauer. Die Zensoren lassen sie ganz schnell löschen."
Auch im chinesischen Strafrecht müsse der Tatbestand "sexuelle Belästigung" überarbeitet werden. Es gebe zwar den Tatbestand, aber keine klare Definition. Offenbar habe auch die chinesische Polizei kein großes Interesse daran, sexuelle Übergriffe, die überall in Bussen und U-Bahnen durch Videoüberwachung dokumentiert würden, strafrechtlich zu verfolgen, sagt die Aktivistin.
Ein Strafverfahren, falls es überhaupt zustande kommt, bleibt zumeist aussichtslos. "Es bleibt den Betroffenen nichts anderes übrig, als das Internet als Tribunal zu nutzen und die Anschuldigungen zu veröffentlichen, auch wenn sie nur kurzlebig sind." Einen Ausweg böten nur Strafverfolgungsbehörden, die Anschuldigungen gewissenhaft nachgehen, und eben ein funktionierender Rechtsstaat.