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Ein anderes Gefühl von Raum und Zeit

Aya Bach26. November 2013

Sein neuer Roman spielt in Indien. Aber ohne Berlin wäre er nicht denkbar gewesen, sagt der indische Schriftsteller Raj Kamal Jha. Wie ein Jahr in der deutschen Haupt- stadt sein Leben und seine Arbeit verändert hat.

Der indische Autor Raj Kamal Jha am Potsdamer Platz in Berlin (Foto: DW/Aya Bach)
Bild: DW/A. Bach

Sein zweites Wohnzimmer hat Raj Kamal Jha in Berlin gefunden, noch bevor er seine ersten Einkäufe erledigt hat: Friends & Friends, ein kleines Lokal nahe seiner Wohnung im gemütlichen Stadtteil Charlottenburg, hat ihn gleich gerufen, als er ankam. "Ich wusste ja, dass ich ein Jahr lang nicht nach Indien zurückkommen konnte, und da war dieses asiatische Restaurant mit gut gewürztem, scharfem Essen. Das war der erste Ort, wo ich hinkam. Ich habe gebratene Ente gegessen, und sie war wunderbar."

Ein gelungener Auftakt für das Jahr, das Raj als Stipendiat des DAAD-Künstlerprogramms in Berlin verbracht hat. Für ihn eine einmalige Gelegenheit, in Ruhe zum Schreiben zu kommen. "Ich habe noch nie solches Glück erlebt", sagt er, "denn Schreiben macht mich glücklich." Die Stadt hat dabei eine wichtige Rolle gespielt, er hat sich auf sie eingelassen und sie von ihrer besten Seite kennengelernt. Inzwischen würde er sich am liebsten eine Wohnung in Berlin kaufen, um immer wieder zurückzukommen.

Inspiration Berlinale

Zu Hause in New Delhi ist Raj Kamal Jha (47) nicht nur Schriftsteller, sondern auch leitender Redakteur beim Indian Express, der zweitgrößten englischsprachigen Tageszeitung des Landes: "Ein Rund-um-die-Uhr-Job. Meinen letzten Roman habe ich 2006 geschrieben." Drei waren es bisher, sie alle hatten international Erfolg und wurden auch ins Deutsche übersetzt. In Berlin ist nun Nummer vier fertig geworden.

Ein Gefühl der Sicherheit

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"Der Roman hat Berlin gebraucht", versichert Raj im Rückblick. Zwar spielt er in Indien, aber manche Begebenheiten aus der deutschen Hauptstadt sind zu indischem Romanstoff mutiert. "Als ich in der Schlange stand, um Tickets für die Berlinale zu kaufen, sah ich zwei Leute vor einem Kinoplakat. Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist, aber plötzlich hatte ich für eine Sekunde das Gefühl, die beiden Menschen wären auf dem Plakat", erzählt Raj begeistert. "In meinem Buch gibt es eine Figur, die im Kino lebt. Diese Figur habe ich in eine Leinwand hineinspringen und im Film leben lassen."

Raum für Individuen

Viele Passagen für sein neues Buch sind ihm auch in der S- und U-Bahn eingefallen, auf dem täglichen Weg zur Staatsbibliothek nahe dem Potsdamer Platz. In dem goldglänzenden Bau, den er als Kinofan aus Wim Wenders' Film "Der Himmel über Berlin" kannte, hat er sie dann zu Literatur geformt - in einer Atmosphäre, die ihm ganz neues Arbeiten ermöglicht hat. "In der Staatsbibliothek hat jeder seinen eigenen Arbeitsplatz und seine eigene Schreibtischlampe. In keiner Bibliothek, die ich kenne, ist das so. Ich liebe diesen Sinn für Raum, weil die Bibliothek eines anerkennt: Es sind zwar tausend Leute gleichzeitig da - aber jeder ist ein Individuum."

Lieblingsort: Die Staatsbibliothek am Potsdamer PlatzBild: DW/A. Bach

Nach einer Weile hat Raj herausgefunden, dass man in der Bibliothek sogar einen eigenen Tisch buchen kann. Das war ihm so wichtig, dass er eigens ein Antragsformular dafür ausgefüllt hat: "Nach fünf Tagen hatte ich Tisch Nummer 54. Dieser Tisch ist mein Zuhause in der Staatsbibliothek geworden." Mental ist der Tisch nun im Reisegepäck nach New Delhi mitgekommen, denn Raj ist mit einem neuen Raum-Bewusstsein zurückgekehrt: "Das vermisse ich in Indien die ganze Zeit. Wenn ich Raum brauche, muss ich mir den im Kopf konstruieren. Denn physisch existiert er nicht. Wegen der Arbeit, wegen der Leute, wegen der Kultur."

Erinnerung und Träume

Nicht nur ein anderes Verständnis zum Raum, auch ein anderes Verhältnis zur Zeit hat er in Berlin gespürt: eine enge Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vor der Tür von "Friends & Friends" hat er einen sogenannten Stolperstein entdeckt - eine kleine Gedenktafel aus Messing, die ins Pflaster eingelassen ist. Sie erinnert an den jüdischen Kaufmann Max Schneid, der 1944 von den Nationalsozialisten nach Auschwitz deportiert wurde. "Max Schneid ist mein Nachbar", dachte Raj, als er den Stolperstein entdeckte. "Jetzt weiß ich, dass er hier gelebt hat und dass er in Auschwitz umgekommen ist. Er hat mich immer vom Boden aus angestarrt, wenn ich da entlangging, um Brot, Käse, Eier zu kaufen."

Inspiration Großstadt: Raj und die Berliner S-BahnBild: DW/A. Bach

Die Deutschen, das hat er schnell festgestellt, sind sich ihrer Geschichte viel stärker bewusst als die Inder. Kein Wunder in der jungen Gesellschaft seines Landes, wo nahezu die Hälfte der Menschen jünger sind als 25. "Sie haben nicht das Gewicht der Erinnerung", sagt Raj. "In den meisten meiner journalistischen Geschichten haben die Träume ein viel stärkeres Gewicht als die Erinnerung."

Die Erfahrung aus Deutschland, davon ist Raj Kamal Jha überzeugt, wird langfristig seine Arbeit als Journalist verändern. "In Indien neigen wir dazu, unsere Vergangenheit zu verleugnen. Wir wollen nicht erinnern, während wir Hals über Kopf voranstürmen. Das ist zwar einerseits gut und gibt Hoffnung für die Zukunft. Aber ich denke doch, dass Geschichte wichtig ist und dass man sich der Geschichte bewusst sein sollte."

Von Raj Kamal Jha sind bisher folgende Romane erschienen: "The Blue Bedspread" (1999, dt.: "Das blaue Tuch", 2000), "If You Are Afraid of Heights" (2003, dt.: "Wenn du dich fürchtest vor dem Fall", 2005) und "Fireproof" (2006, dt. "Die durchs Feuer gehen", 2006). Sein neuer, in Berlin geschriebener Roman erscheint 2014.