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Politik

Ein Drittel der Ukrainer wagt ein Experiment

Roman Goncharenko mo
1. April 2019

Triumph für Selenskyj, Ohrfeige für Poroschenko und Déjà-vu mit Tymoschenko. Die Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen versprechen einen erbitterten Kampf vor der Stichwahl in drei Wochen.

Wolodymyr Selenskyj
Wolodymyr Selenskyj Bild: Getty Images/B. Hoffman

Genau drei Monate brauchte Wolodymyr Selenskyj, der in der Neujahrsnacht seine Präsidentschaftskandidatur angekündigt hatte, um in der ersten Wahlrunde unter den fast 40 Teilnehmern auf Platz eins zu kommen. Die Ergebnisse der Nachwahlbefragungen vom Sonntag von drei angesehenen Meinungsforschungsinstituten sind in der Geschichte des Landes beispiellos.

Demnach erreicht der Fernsehkomiker und politische Newcomer Selenskyj rund 30 Prozent der Stimmen und der derzeitige Präsident Petro Poroschenko wird mit etwa 16 Prozent Zweiter. Platz drei geht an die frühere Premierministerin Julia Tymoschenko, für die rund 13 Prozent der Befragten stimmten. Die ersten offiziellen vorläufigen Ergebnisse der Abstimmung zeigen ein sehr ähnliches Bild.

Poroschenko zeigt sich glücklich

Selenskyj, der als Favorit gehandelt wurde, kann durchaus mit einem Sieg in der Stichwahl am 21. April rechnen. Der 41-jährige Schauspieler, der am Abend in Begleitung seiner Frau bei seinem Wahlkampfteam in Kiew erschien, war in bester Laune, lächelte viel und zeigte sich gegenüber Journalisten betont höflich. Mit Erklärungen hielt er sich zurück.

Petro PoroschenkoBild: Reuters/V. Ratynskyi

Auch Poroschenko lächelte viel, obwohl das angesichts seines Ergebnisses seltsam wirkte. Nach Schließung der Wahllokale erinnerte der 53-jährige Präsident in seinem Hauptquartier eher an einen Mann, dessen schlimmste Befürchtungen nicht eingetreten sind. Offenbar hatte er ernsthaft damit gerechnet, die Stichwahl verpassen zu können. Nur so kann man seine Freude über die Ergebnisse der Nachwahlbefragungen erklären, die wie eine Ohrfeige knallen.

Gesteht Tymoschenko Niederlage ein?

Julia Tymoschenko trat mit versteinerter Miene vor die Presse. Die Ex-Premierministerin galt als eine der führenden Oppositionspolitikerinnen noch vor wenigen Wochen als Favoritin. Jetzt scheidet sie offenbar aus dem Rennen aus, auch wenn sie angedeutet hat, das Wahlergebnis möglicherweise nicht anzuerkennen. Sie bezeichnete die Meinungsforscher als "korrupt" und verwies auf eigene Erhebungen, denen zufolge sie mit rund 20 Prozent auf Platz zwei kommt. Vielen Ukrainern kam ihr Auftritt wie ein Déjà-vu vor. Im Jahr 2010, als sie die Stichwahl mit einem Abstand von etwa drei Prozent gegen den damaligen Oppositionellen Viktor Janukowitsch verlor, weigerte sie sich zunächst, das Ergebnis anzuerkennen. Sie sprach von Fälschung.

Julia TymoschenkoBild: Reuters/V. Fedosenko

Damals sagte Tymoschenko, sie werde vor Gericht ziehen, aber nicht zu Protesten auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, aufrufen. Wie sie sich diesmal verhalten wird, ist noch offen. Vor dem Gebäude der Zentralen Wahlkommission versammelten sich am Wahltag sportlich anmutende Jugendliche, von denen sich Tymoschenko distanzierte.

Die Hauptergebnisse der ersten Wahlrunde

Ein Ergebnis ist die Tatsache, dass ein Drittel der Ukrainer zu dem Experiment bereit ist, einen Mann aus dem Showbusiness ins Präsidentenamt zu hieven, der sich jahrelang über die Politiker des Landes lustig gemacht hat. Höhepunkt war die TV-Serie "Diener des Volkes", in der Selenskyj einen Geschichtslehrer spielt, der Präsident wird. Ihm ist es gelungen, bei einem großen Teil der Bevölkerung, vor allem bei jungen Menschen im Osten und Süden, einen Hype auszulösen und den Wunsch, Teil davon zu sein.

Oligarch Ihor KolomojskiBild: picture-alliance/Mykhaylo Markiv

Eine entscheidende Rolle spielte dabei der populäre TV-Sender "1+1" des ukrainischen Geschäftsmanns Ihor Kolomojski. Offiziell sind er und Selenskyj nur Geschäftspartner. Doch Kritiker vermuten, dass sie sich vorgenommen haben, eine Wiederwahl von Poroschenko zu verhindern. Vor den Wahlen zeigte der Sender ständig Filme und Shows mit Selenskyj, in denen Realität und Fiktion vermischt wurden.

Ein weiteres Ergebnis ist die Tatsache, dass Poroschenko entweder seine Popularität überschätzt oder einfach riskiert hat, für eine zweite Amtszeit zu kandidieren. Die geringe Wahlbeteiligung der Ukrainer im Westen des Landes, auf deren Patriotismus Poroschenko gesetzt hatte, ist für ihn eine unschöne Überraschung. Die Unzufriedenheit mit der Korruption und dem niedrigem Lebensstandard überwog und stellte die außenpolitischen Erfolge des Präsidenten, vor allem die Annäherung an die EU und seine Rolle bei der Schaffung einer von Moskau unabhängigen orthodoxen Landeskirche, in den Hintergrund.

Womit ist in der Stichwahl zu rechnen?

Poroschenko sagte, er habe die Menschen "erhört", die für seine Gegner gestimmt hätten. Angesichts der Gefahr, die Zeit könnte zurückgedreht werden, rief er zu Geschlossenheit auf. Seiner Rede am Wahlabend nach zu urteilen will er die Stichwahl in ein Referendum über Unabhängigkeit und den Weg der Ukraine in die NATO und EU verwandeln. Nach dem Motto: Ohne mich wird die Ukraine zurückgeworfen und der "Aggressor" - den ukrainischen Behörden zufolge ist das Russland - wird triumphieren. Beobachtern zufolge brachte diese Rhetorik Poroschenko aber keinen Sieg in der ersten Wahlrunde. Für einen Durchbruch wird er den Ukrainern noch etwas anderes anbieten müssen.

Noch vor Schließung der Wahllokale wurde bereits über eine mögliche Allianz zwischen Selenskyj und Tymoschenko spekuliert. Von ihr selbst wurde das weder bestätigt noch dementiert. Tymoschenko sagte lediglich, vor Ende der Stimmauszählung werde sie keine Gespräche führen.

Schon vor der ersten Wahlrunde wurde kompromittierendes Material über die Kandidaten verbreitet. In sozialen Netzwerken wurde vor allem Selenskyj durch den Dreck gezogen und im Fernsehen Poroschenko. Er sagte, er werde Kolomojskis Sender für einen Bericht verklagen, wonach Poroschenko angeblich für den Tod seines Bruders mit verantwortlich sei.

Der Kampf um den Sieg in der Stichwahl verspricht noch erbitterter zu werden. Aber auch danach wird man mit allen Kandidaten weiter rechnen müssen, einschließlich Tymoschenko. Im Herbst finden in der Ukraine Parlamentswahlen statt, die formal noch wichtiger sind als die Präsidentschaftswahlen. Denn seit dem Machtwechsel 2014 gilt wieder die Verfassung, wonach die Regierung mehr Macht als der Präsident besitzt. Alle Verlierer der Präsidentschaftswahl haben somit in sechs Monaten eine Chance zur Revanche.

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