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Politik

Ein Jahr danach: Christchurch verstehen

Jehan Casinader ehl
14. März 2020

Vor einem Jahr eröffnete ein Rechtsextremer in Neuseeland das Feuer auf Muslime in zwei Moscheen. Die Tat hat tiefe Spuren hinterlassen. Das Land muss sie noch verarbeiten, schreibt Jehan Casinader in Christchurch.

Neuseeland | Trauer | Christchurch-Moschee
Bild: Getty Images/D. Manson

"Wie konnte das geschehen?" Diese Frage quälte am 15. März 2019 viele Neuseeländer. Es war ein Freitag, der Wochentag, an dem die Moscheen auf der ganzen Welt am vollsten sind, auch in Christchurch.

Ein schwer bewaffneter Rechtsextremer betrat an diesem Tag nacheinander zwei Moscheen in der neuseeländischen Stadt - um Menschen niederzuschießen, die dort gerade beteten. Viele von ihnen waren in die Andacht vertieft, hatten die Augen geschlossen und der Tür, durch die der Schütze eindrang, den Rücken zugekehrt. Seine Schüsse töteten 51 Menschen, Dutzende wurden verletzt.

An diesem Tag starb die Unschuld des weltoffenen Landes - der Schütze traf auch ins Mark der neuseeländischen Identität. Der ozeanische Inselstaat, berühmt vor allem für Rugby, Wolle, Milch und Hobbits, war schon immer stolz auf seine Unabhängigkeit.

Bisher waren die vier Millionen Neuseeländer oft weit, weit weg von den großen Bedrohungen dieser Welt. Das gilt auch für die Welle nationalistischer, spalterischer und populistischer Ideologien, die vor allem über Europa und Amerika hinwegrollt.

Die Unschuld starb: Trauernde nach dem TerroranschlagBild: picture-alliance/dpa/Kyodo

Doch der Terroranschlag von Christchurch zeigte, das in Zeiten globaler digitaler Vernetzung auch Neuseeland kein sicherer Hafen ist, den Hass und Extremismus nicht erreichen. Der mutmaßliche Täter, dessen Verurteilung noch bevorsteht, hat seine rassistischen Einstellungen in einem Text niedergeschrieben, den er vor der Tat online veröffentlichte.

Der Anschlag hat Versagen aufgedeckt

In den zwölf Monaten, die seitdem vergangen sind, musste Neuseeland sich mit den Strukturen, gesellschaftlichen Normen und Einstellungen beschäftigen, die diesen Anschlag erst möglich gemacht hatten. Diese Zeit der Selbstreflexion war unbequem und nicht unumstritten - aber ebenso erkenntnisreich.

Schon seit Jahren hatten die Leiter muslimischer Einrichtungen gegenüber den Behörden über wachsende Diskriminierung und Bedrohungen ihrer Gemeinden geklagt, insbesondere aus dem neurechten Spektrum. 2006 beispielsweise stattete eine Gruppe Neonazis der Al-Noor-Moschee in Christchurch einen ungebetenen Besuch ab, deponierte eine Kiste mit Schweineköpfen und rief: "Weiße Macht ... Raus mit den A***. Her mit dem Schlachtmesser."

Sprecher muslimischer Gemeinden baten staatliche Stellen schon damals um besseren Schutz. Der Ruf sei jedoch ungehört verhallt, sagen sie. Stattdessen suchten die Staatsschützer hauptsächlich in den Reihen der Muslime nach potentiellen Terroristen.

Während Moscheen also unter Beobachtung standen, blieben die dunklen Ecken der großen Social-Media-Plattformen den Behörden mutmaßlich verborgen. Und auch deren Betreiber haben nicht genau genug hingesehen: Der Terroranschlag von Christchurch machte deutlich, dass sie längst nicht immer die aufwieglerischen, gefährlichen und oft genug auch kriminellen Posts erkennen und anzeigen, die auf ihren Webseiten landen.

Diese Konzerne haben Plattformen geschaffen, auf denen Extremisten zueinanderfinden und Informationen miteinander teilen konnten. Mehr noch: Im digitalen Raum können sie einander in ihren kruden Ideologien bestärken und schließlich zu Gewalttaten im analogen Raum ermutigen. Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern reagierte darauf mit dem "Aufruf von Christchurch", einer Abmachung zwischen der Regierung und Online-Dienstleistern, um gemeinsam Hassbotschaften zu bekämpfen.

Nahbar und empathisch: Premierministerin Jacinda Ardern nimmt ein Mitglied der Moscheegemeinde in den ArmBild: Getty Images/H. Hopkins

Ardern hat in den Tagen nach dem Anschlag Führungsstärke bewiesen und internationale Anerkennung erhalten, auch für ihren empathischen, nahbaren Umgang mit den Opfern und ihren Angehörigen. Ein Foto der heute 39-Jährigen, das sie im Hijab mit Angehörigen zeigt, ging um die Welt.

Offener und verdeckter Rassismus

Vor allem gelang es Jacinda Ardern, die richtigen Worte zu finden. "Sie sind wir", sagte die Premierministerin über die Einwanderer, denen der rassistische Anschlag galt. Sie hielt eine Ansprache der Integration, der Toleranz und des Miteinanders. Die Opfer seien keine Besucher in Neuseeland, sagte Ardern, sondern Kiwis. "Sie haben in unserem Boden Wurzeln geschlagen und sie verdienen es, geschützt zu werden."

Ich selbst bin sri-lankischer Neuseeländer in zweiter Generation, und diese Aussage tat mir gut. Während des vergangenen Jahres habe ich aber immer wieder beobachtet, wie tief Spannungen über Hautfarbe und Herkunft in der neuseeländischen Gesellschaft verwurzelt sind. Rassismus existiert hier in vielen Formen, offen und verdeckt, bewusst und unbewusst. Wir, die wir ethnischen Minderheiten angehören, haben Erfahrung damit.

Eigene Erfahrung: Der neuseeländische Journalist Jehan Casinader hat über den Anschlag berichtetBild: Tom Hollow

Neuseeland war früher eine britische Kolonie und hat eine unrühmliche Geschichte kultureller Unterdrückung hinter sich. Sie begann mit dem Umgang der Krone mit den einheimischen Maori. 2020 ist Neuseeland eine multikulturelle Nation, aber weite Teile davon sind auf Traditionen und Werten aufgebaut, die oft wenig Raum für andere Glaubensrichtungen, Ideen und Lebensentwürfe lassen. Für jene, die neu im Land ankommen, kann das Leben im vermeintlichen Paradies einsam sein.

Herausforderungen für alle

Ein Jahr nach dem Terroranschlag von Christchurch müssen die mächtigen Institutionen im Land sich weiter fragen, wie viel Verantwortung sie dafür tragen, Extremismus und Hassreden zu unterbinden.

Die eigentliche Frage liegt aber sehr viel näher am Alltag jedes Neuseeländers und jeder Neuseeländerin: Wie können wir Vorurteile in unseren Schulen, Wohnungen, Arbeitsstätten und Gemeinschaften bekämpfen? Dieser Herausforderung müssen sich nicht nur der Staat und die Betreiber von Internetplattformen stellen - sondern jeder einzelne Bürger.

Am 15. März 2019 fragten wir: "Wie konnte das geschehen?"

Ein Jahr später fragen wir: "Wie können wir sicherstellen, dass es niemals wieder passiert?"

Jehan Casinader ist ein neuseeländischer Fernsehjournalist und hat über den Terroranschlag in Christchurch und seine Nachwirkungen berichtet.

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