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Politik

Kolumbien: Justiz in der Schwebe

Cristina Esguerra
24. November 2017

Lange schien es unmöglich, vor einem Jahr wurde es Wirklichkeit: Der kolumbianische Präsident Santos und die Anführer der FARC-Rebellen unterzeichneten einen Friedensvertrag. Doch heute sind Viele verbittert.

Kolumbien Gallo,  FARC Demobilisierung
Bild: Getty Images/AFP/J. Colorado

Es gab viel Applaus, als Juan Manuel Santos Anfang November den renommierten Chatham-House-Preis entgegennahm. Ausgezeichnet wurde der kolumbianische Präsident, weil es ihm vor genau einem Jahr gelungen war, gemeinsam mit den Anführern der FARC-Rebellen ein Friedensabkommen zu unterschreiben, das einen mehr als 50 Jahre anhaltenden bewaffneten Konflikt beendete. Doch die Kolumbianer fragen sich, wie hoch der Preis für den Frieden noch steigen soll.

"Ehemalige Guerilla-Kämpfer werden aus dem Gefängnis entlassen, aber solange ihr rechtlicher Status nicht geklärt ist, ist es ihnen nahezu unmöglich, Arbeit zu finden. Viele haben nicht genug Geld, um ihre Miete zu bezahlen, und keine Familie, die sie unterstützt", sagt Daniela Sanclemente, die den Generalsekretär der Sonderrechtsprechung für den Frieden ("Justicia Especial para la Paz" - JEP) berät.

Sanclemente hat Gefängnisse besucht und Hintergrundinformationen zu ehemaligen FARC-Mitgliedern gesammelt, deren Fälle nun vor einem Gericht dieser Übergangsjustiz entschieden werden. "Was ihnen am meisten Angst macht, ist die Unsicherheit", sagt sie.

Am 24. November 2016 unterzeichneten Präsident Santos (l.) und FARC-Führer Jiménez den FriedensvertragBild: Getty Images/AFP/L. Robayo

Friedensvertrag auf der Kippe

Die Friedensvereinbarung steht seit Monaten auf der Kippe, weil das Parlament das Gesetz, das die Ausgestaltung der JEP festlegen soll, immer wieder hinausschiebt. Die Regierung steht unter Zugzwang, und Abgeordnete nutzen die Situation, um politisches Kapital daraus zu schlagen. Selbst Mitglieder der Partei von Präsident Santos verlangen für ihre Stimme Gegenleistungen wie Investitionen in die Infrastruktur und öffentliche Jobs in ihrer jeweiligen Region.

Immerhin hat der Senat dem JEP-Gesetz in der vergangenen Woche zugestimmt, wenn auch mit leichten Veränderungen: So müssen sich zum Beispiel FARC-Kämpfer, die wegen Sexualverbrechen an Minderjährigen beschuldigt werden, vor regulären Gerichten verantworten. Bis Ende des Monats muss auch das Repräsentantenhaus über das Gesetz entscheiden. Und der Druck auf Santos ist groß, denn das JEP-Gesetz ist die tragende Säule des Friedensprozesses.

Viele Kolumbianer fanden die erste Fassung des Friedensabkommens zu milde für ehemalige Rebellen Bild: Reuters/J. Vizcaino

Hängepartie für Konflikt-Beteiligte

Der Friedensvertrag sieht vor, dass eine Übergangsjustiz über das Schicksal ehemaliger Kämpfer entscheidet. Sie besteht aus einer Wahrheitskommission, einem Team für die Suche nach Vermissten und der JEP. Ohne den Beschluss über ein JEP-Gesetz bleibt jedoch ungeklärt, wie und ob sich ehemalige Rebellen in die kolumbianische Gesellschaft wiedereingliedern können.

Währenddessen hat der ehemalige FARC-Anführer Rodrigo Londoño, alias Timochenko, bekannt gegeben, dass er zur Präsidentschaftswahl 2018 antreten will. Elf ehemalige FARC-Kämpfer wollen außerdem bei der Parlamentswahl kandidieren. Der Friedensvertrag sieht vor, dass FARC-Repräsentanten unabhängig vom Wahlergebnis fünf von 166 Sitzen im Repräsentantenhaus und fünf von 102 Sitzen im Senat bekommen.

Kolumbianer sind besorgt, dass Menschen für ihre Verbrechen nicht zur Verantwortung gezogen werden könnten. Sie sind verärgert, dass die Regierung ein Gesetz vorgeschlagen hat, das die Strafen für Mitglieder krimineller Banden drastisch mildern würde, falls sie ihre Waffen abgeben. Ihre Haftstrafen könnten um bis zu 80 Prozent reduziert werden, und sie dürften fünf Prozent ihres illegal erworbenen Vermögen behalten. Für viele Kolumbianer würde dieses Gesetz das Ende des Rechtsstaates bedeuten.

Eine Übergangsjustiz würde eine Umwandlung von Gefängnisstrafen für FARC-Kämpfer in gemeinnützige Arbeit zulassen Bild: picture-alliance/AP Photo/F. Vergara

"Die Justiz ist ohne Regeln"

Inzwischen stoßen zudem andere kriminelle Gruppen in das Vakuum, das die FARC hinterlassen hat: Seit Monaten rekrutieren sie ehemalige Guerilla-Kämpfer. In abgelegenen Gebieten des Landes sind gewalttätige Verbrechen stark gestiegen. 2017 wurden bereits 120 Menschenrechtsaktivisten ermordet. Abgeordnete, ehemalige Richter am Verfassungsgericht und selbst ein mit Korruptionsfällen betrauter Staatsanwalt sind in Korruptionsskandale verwickelt.

"Die Justiz ist ohne Regeln, weil die JEP die Regeln verändert hat," schrieb Kolumnist Juan Lozano in der vergangenen Woche in der Zeitung "El Tiempo". "Zugleich gibt es keine [neuen] JEP-Regeln, weil das Gesetz dafür noch nicht verabschiedet wurde."

Die gegenwärtige Unsicherheit polarisiert das Land. Ein Jahr, nachdem der Friedensvertrag unterzeichnet wurde, nimmt die Gewalt zu, eine Versöhnung scheint fast unerreichbar.

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