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PolitikSyrien

Ein Jahr nach dem Beben: Syrien leidet, Assads Macht wächst

Jennifer Holleis | Omar Albam / Nordsyrien
6. Februar 2024

Traumatisiert, ohne Hilfe und Hoffnung: Die Situation der Menschen in Syrien hat sich ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben weiter verschlechtert. Einer hat die Katastrophe zu seinem Vorteil genutzt: Machthaber Assad.

Ein junger Mann in einem zerstörten Haus im Nordwesten Syriens
Ein junger Mann in einem zerstörten Haus im Nordwesten SyriensBild: Anas Alkharboutli/dpa/picture alliance

Maryam Abu Atban kann es kaum zu glauben: Ein ganzes Jahr ist bereits vergangen, seit ein verheerendes Erdbeben der Stärke 7,8 ihr bisheriges Leben zerstörte. Die Erinnerungen an die frühen Morgenstunden des 6. Februar 2023, als im Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei die Erde bebte, sind für die 42-jährige Mutter noch immer schmerzhaft lebendig. "Als die Sonne aufging, war die Hälfte meiner Familie tot", sagt sie.

"Wir leben jetzt in einem Zelt, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der zwei unserer Kinder in den Trümmern unseres Hauses starben", berichtet sie im Gespräch mit der DW in Dschindires, einer kleinen Stadt im Nordwesten Syriens. "Mein Mann wollte von hier weggehen. Aber ich war dagegen. Denn egal, wohin wir gehen, die Bilder der Toten bleiben vor unseren Augen", sagt sie unter Tränen.

Nach Angaben der Vereinten Nationen kamen bei dem Erdbeben in Syrien mindestens 6000 Menschen ums Leben. Das der syrischen Opposition nahestehende Syrian Network for Human Rights hat knapp über 10.000 Tote gezählt.

Mariam abo Atban verlor durch das Erdbeben zwei ihrer Kinder.Bild: Omar Albam/DW

Assad baut Machtposition aus 

In der Türkei wird die Zahl der dort durch das Beben gestorbenen Personen offiziell mit knapp 51.000 beziffert. Im politisch zersplitterten Syrien hingegen gibt es keine offiziellen Zahlen. Nach 13 Jahren Bürgerkrieg zerteilt sich das Land in Gebiete, die von der Regierung unter Präsident Baschar al-Assad mit russischer und iranischer Unterstützung kontrolliert werden, und solche, die unter der Kontrolle von Oppositionsgruppen, kurdischen oder islamistischen Milizen stehen. Diese unterschiedlichen Gruppen werden teils von der Türkei, teils aber auch von den USA und anderen internationalen Akteuren unterstützt.

In dieser Gemengelage hat die Katastrophe dem Machthaber in die Hände gespielt. Assad, der über den größten Landesteil herrscht, konnte seine Position als Staatschef weiter festigen und einen weiteren Schritt aus der internationalen Isolation heraustreten. Nach dem Erdbeben beharrte er zunächst tagelang darauf, dass jegliche, von verschiedenen Staaten und Institutionen umgehend angebotene Hilfe über die von der Regierung kontrollierte Hauptstadt Damaskus laufen müsse. Dies sollte auch für jene Hilfsgüter gelten, die für den von den Rebellen kontrollierten Nordwesten vorgesehen waren. 

Zu wenig Geld für humanitäre Hilfe

Ein Jahr später hat sich die Lage im Land nicht verbessert. "Die Lage in Syrien ist nach wie vor verheerend", sagte Julian Barnes-Dacey, Direktor des Programms für den Nahen Osten und Nordafrika beim European Council on Foreign Relations, der DW. "Syrien erhält keine internationale Aufmerksamkeit mehr. Die Finanzmittel versiegen."

"Die humanitäre und wirtschaftliche Krise in Syrien hat sich verschlimmert", sagt auch Hiba Zayadin, Nahost-Expertin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Viele Schäden seien noch lange nicht behoben. "Gleichzeitig schwinden die Mittel für UN-Organisationen - und das in einer Zeit, in der immer mehr Menschen fast vollständig auf Hilfe angewiesen sind, um zu überleben."

Menschen wie etwa Abdul Razzaq Khaled Al-Sah aus Dschindires. Er hat bei dem Erdbeben zehn Familienmitglieder und sein Haus verloren. "Vor einem Jahr hatte ich nach dem Beben überhaupt nichts mehr. Ich stand ohne jede Hilfe da", sagt er der DW. "Niemand gab mir ein Zelt, also musste ich mir Geld leihen und eines kaufen. Niemand hat mich bisher entschädigt." 

"Letztes Jahr war das Budget für humanitäre Hilfe in Syrien nur zu 38 Prozent finanziert", sagt David Carden, stellvertretender regionaler UN-Koordinator für humanitäre Hilfe in Syrien, im DW-Gespräch. "So schlecht war seit Beginn der Krise im Jahr 2011 noch nie ein Etat ausgestattet." Zwar seien seit dem Erdbeben einige kleine Fortschritte erzielt worden. "Aber die Hilfe ist deutlich unterfinanziert. Und mit weniger Mitteln können wir auch nur weniger erreichen." Die langfristigen Folgen der Erdbeben belasteten die betroffenen Gemeinden bis heute stark, sagt der UN-Vertreter, "zusätzlich zu den immer wieder aufflammenden Feindseligkeiten in der Region, dem wirtschaftlichen Niedergang und zunehmender Nahrungsmittelknappheit".

Nach Angaben des UN-Welternährungsprogramms (WFP) gehört Syrien zu den zehn Ländern mit den meisten hungernden Menschen weltweit. Fast 13 Millionen Syrer - mehr als die Hälfte der Bevölkerung - leiden an Hunger. Trotzdem kündigte das WFP im Januar an, es werde sein Nahrungsmittelhilfeprogramm in Syrien aufgrund einer "Finanzierungskrise" beenden müssen. "Die meisten Syrer sind damit beschäftigt, ihr tägliches Überleben zu sichern", sagt Nahost-Experte Barnes-Dacey. "Derweil bricht Syrien weiter zusammen. Das Land implodiert, und die Regierung erweist sich weiter als unfähig, sinnvolle Dienstleistungen zu erbringen oder eine Verbesserung der Lage in Aussicht zu stellen."

Abdul Razzaq Khaled Al-Sah musst sich nach dem Erdbeben Geld leihen, um sich ein Zelt zu kaufen. Bild: Omar Albam/DW

"Syriens Probleme sind in den Hintergrund getreten"

Nicht nur in dem von Milizen kontrollierten Nordwesten, sondern auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten ist die humanitäre Lage äußerst schwierig. "Seit dem Erdbeben hat sich die Lage deutlich verschlimmert", sagt Wafa Mustafa vom Washingtoner Think Tank Tahrir Institute for Middle East Policy, im DW-Gespräch: "Das hängt teilweise mit dem Erdbeben selbst zusammen, aber auch mit den politischen Entwicklungen seither."

Als Folge des Erdbebens hatten viele arabische Staaten Hilfslieferungen angeboten - auch solche, die ihre Beziehungen zum Assad-Regime abgebrochen hatten. Das ebnete und erleichterte den Weg für neue Gespräche mit Assad. In deren Folge wurde das Regime drei Monate später, im Mai 2023, wieder in die Arabische Liga aufgenommen. Die 22 Länder umfassende Gruppe hatte Syrien 2011 als Folge des harten Vorgehens gegen die Protestbewegung im Rahmen des sogenannten "Arabischen Frühlings" aus der Liga ausgeschlossen.

Unterschiedlichen Schätzungen zufolge sind im syrischen Bürgerkrieg bis zu 650.000 Menschen umgekommen. Die Streitkräfte des Assad-Regimes werden beschuldigt, mit großflächigen Bombardierungen gegen Teile der Bevölkerung vorzugehen. Tausende Menschen sind in den berüchtigten Gefängnissen des Landes verschwunden.

"Die derzeitige Situation gibt Präsident Assad offensichtlich die Möglichkeit, seine Position ohne großen Druck aufrechtzuerhalten" sagt Barnes-Dacey. Auch er beklagt: "Niemand schenkt der Lage in Syrien politische Aufmerksamkeit oder legt Geld auf den Tisch. Die Probleme Syriens sind in den Hintergrund getreten."

Für Wafa Mustafa vom Tahrir Institute for Middle East Policy liegt es auf der Hand: Mit Blick auf die Verbrechen der Vergangenheit genieße Baschar al-Assad international faktisch weiterhin Straffreiheit - ebenso für die "andauernden Verbrechen in seinem Herrschaftsgebiet". Die Misere in Syrien sage viel über die Straffreiheit aus, die das Assad-Regime genieße, so Mustafa, "und zugleich auch über das globale System, das die Syrer immer wieder im Stich lässt".

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.