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Ein Jahr nach Halle: Ein Trauma, das bleibt

9. Oktober 2020

Vor einem Jahr versuchte ein Attentäter, die Synagoge in Halle zu stürmen. Mehr als 50 Menschen waren damals in dem Gotteshaus. Sie leiden bis heute unter dem Erlebten. Eine Begegnung mit einer Überlebenden.

Mollie Sharfman überlebte antisemitischen Anschlag
Bild: Lisa Hänel/DW

Es ist der 9. Oktober 2019. In Halle feiert die Jüdische Gemeinde Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag. Kurz vor 12 Uhr mittags hören sie Schüsse. Ein Attentäter zielt von Außen etliche Male auf die Holztür der Synagoge. Sie hält stand und bewahrt damit die Gemeinde vor einer Katastrophe. Der Attentäter erschießt daraufhin zwei Menschen in der Nähe der Synagoge.

Es hat nicht viel gefehlt und es hätte auch Mollie Sharfman treffen können. Kurz bevor der Attentäter die Synagoge erreicht und beginnt, auf die Holztür zu schießen, verlässt die gebürtige US-Amerikanerin durch denselben Eingang das Gotteshaus. "Der Attentäter wusste, dass es eine Pause zwischen dem Gebet geben wird und er auf jeden schießen würde, der aus der Tür kommt", sagt Sharfman. Doch der Attentäter sei zu spät dran gewesen. Das hat ihr wahrscheinlich das Leben gerettet. Sharfman sitzt in einem nahegelegenen Park, als sie die Schüsse hört. Instinktiv bleibt sie sitzen. Bis heute könne sie kaum begreifen, wie knapp es für sie ausgegangen sei. "Mein Leben ist geteilt: Es gibt ein Leben vor dem Attentat und eines danach."

Mit der Ruhe kam die Angst

Nach dem Anschlag ging eine Schockwelle durch Deutschland. Von allen Seiten gab es Solidaritätsbekundungen für die Jüdische Gemeinde in Halle. Tausende gingen in verschiedenen Städten auf die Straßen, Bundesinnenminister Horst Seehofer reiste nach Halle. Die Politik sicherte allen Jüdischen Gemeinden in Deutschland besseren Schutz zu. Am Tag des Attentats hatte die Gemeinde in Halle nur sporadischen Polizeischutz gehabt.

Jüdischer Feiertag Jom Kippur

02:35

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Nach wenigen Wochen legte sich die Betroffenheit und die Öffentlichkeit wandte sich anderen Themen zu. Das war der Punkt, an dem es in Mollie Sharfmans Leben anfing, schwierig zu werden. "Ich habe angefangen, ein wenig die Kontrolle über den Alltag zu verlieren, war hoffnungslos und hatte Angst." Wenige Monate nach dem Anschlag wird bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Sie beginnt eine Therapie und langsam geht es bergauf.

Den größten Halt findet sie in dem, was bei dem Anschlag buchstäblich unter Beschuss stand: in ihrer jüdischen Identität. Seit Kindertagen ist Mollie Sharfman stark in ihre Jüdische Gemeinde eingebunden, übernimmt Freiwilligendienste. Seit eineinhalb Jahren arbeitet sie für eine jüdische Bildungsorganisation in Berlin und engagiert sich ehrenamtlich bei "Morasha Germany", einer jüdischen Studentenorganisation. "Für viele Menschen", sagt Sharfman, "war es schwer, das in Einklang zu bringen. Ja, ich bin diese Person, die auch Leitungsaufgaben übernimmt und auf die sich Menschen verlassen können. Aber ich muss seit dem Anschlag auch kämpfen."

Der Rückhalt ihrer Gemeinde gab Sharfman nach dem Attentat KraftBild: Lisa Hänel/DW

Wendepunkt Prozess

Fast zehn Monate nach dem Anschlag begann diesen Sommer der Prozess gegen den Halle-Attentäter. Mollie Sharfman ist die erste Zeugin, die vor Gericht aussagt. Es ist auch der Moment, an dem sie beginnt, sich mit der Vorstellung auseinanderzusetzen, dass sie eine Überlebende ist. Als sie zum ersten Mal hörte, wie eine Journalistin sie kurz nach dem Anschlag als Überlebende bezeichnete, erschien ihr das absurd. Der Überlebende war ein anderer - ihr Großvater. Sharfman ist Enkelin eines Holocaust-Überlebenden, der seine gesamte Familie in der Shoa verloren hat. Nach dem Krieg wanderte er in die USA aus. Mollie Sharfman ist seine erste Enkelin und führte damit eine Familienfolge fort, die es fast nicht mehr gegeben hätte.

"Mein ganzes Leben lang war er der Überlebende", erinnert sich Sharfman. "Und ich war stolz darauf, seine Enkelin zu sein. Er hat Furchtbares erlebt und trotzdem konnte er uns Liebe geben. Er hat das Judentum geliebt und uns alles darüber beigebracht." Deshalb erwähnt sie ihn auch, als sie Anfang September vor Gericht aussagt. Der Attentäter lacht, als Sharfman von ihrem Großvater erzählt. Das habe ihr im Nachhinein zugesetzt. Dennoch habe sie die Erfahrung vor Gericht stärker gemacht. "Ich war in der Lage einem Menschen zu begegnen, der so viel Hass empfindet und uns schaden wollte. Und ihm zu sagen: Du hast dich mit dem falschen Volk angelegt".

Suche nach dem Sinn

Vier Wochen später, es ist Ende September, trifft sich Mollie Sharfman in einer Berliner Wohnung mit einer Gruppe Freunden und übt jüdische Gebetslieder. In wenigen Tagen wird sich Jom Kippur zum ersten Mal nach Halle jähren und die Gruppe bereitet eine Feier mit der Gemeinde vor. Die Atmosphäre ist fröhlich, auf dem Tisch stehen Granatäpfel, Gitarrenklänge schwingen durch den Raum. In Mollie Sharfmans Gesicht legt sich aber auch hin und wieder leise Melancholie.

Singen sei ihre Verbindung zum Judentum, sagt SharfmanBild: Lisa Hänel/DW

Die Lieder, die sie an diesem Tag singen, sind dieselbe, die Sharfman auch mit der Gemeinde in Halle kurz nach dem Anschlag gemeinsam anstimmte. "Die Worte der Lieder spiegeln vieles wider, was ich durchgemacht habe", sagt Sharfman. "Und sie sagen aus, dass Gott immer da sein wird, auch in den dunklen Stunden." Als sie die Lieder damals vor einem Jahr nach dem Schock des Anschlags sangen, erinnert sich Sharfman, habe eine Frau gesagt: Wegen diesen Liedern werde das jüdische Volk niemals verschwinden.

Es sind leise, persönliche Gedanken, die sich Sharfman ein Jahr nach dem Anschlag macht. Über die politische und gesellschaftliche Dimension des Anschlags spricht sie kaum. Es ist die schier unbegreifliche Dimension des Fakts, dass ihr Leben nur um Minuten verschont wurde, die sie auch ein Jahr danach beschäftigt. Gleichzeitig müsse sie, sagt Sharfman, ihren ganz normalen Alltag bewältigen, Wäsche waschen, ihrer Arbeit nachgehen. Sie versuche noch immer, das in Einklang zu bringen und einen Sinn in dem zu finden, was passiert sei. Es ist das Trauma, das die gesamte jüdische Gemeinschaft vor einem Jahr ereilte, und das noch immer nicht bewältigt ist.

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