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PolitikSyrien

Gemischte Bilanz: Syrien ein Jahr nach Assads Sturz

Cathrin Schaer
8. Dezember 2025

Ein Jahr nach dem Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad befindet sich das Land an einem entscheidenden Wendepunkt. Zwar wurden erkennbar Erfolge erzielt. Doch zugleich sind viele Herausforderungen noch ungelöst.

Eine Frau macht ein Selfie bei Siegesfeiern nach Sturz des Assad-Regimes, Damaskus, Dezember 2024
Freude nach dem Sturz des Assad-Regimes, Damaskus, Dezember 2024Bild: Chris McGrath/Getty Images

Am 8. Dezember jährt sich zum ersten Mal der Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad. Die Familie Assad regierte Syrien über 50 Jahre lang. Hafiz al-Assad stand ab 1971 an der Macht, nach dessen Tod übernahm im Jahr 2000 sein Sohn Baschar die Herrschaft. Die autokratische Herrschaft der Assads führte 2011 zu einem Volksaufstand und anschließend zu einem brutalen Bürgerkrieg, der fast 14 Jahre andauerte.

Am 8. Dezember 2024 stürzte eine Blitzoffensive der Rebellenmiliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) das Assad-Regime nahezu widerstandslos. Assad und seine Familie flohen nach Russland, im Januar wurde der Anführer der HTS, Ahmed al-Scharaa, zum Übergangspräsidenten ernannt. Was wurde in Syrien seitdem erreicht - und was nicht?

Aufständische erreichen die Stadt Homs, Anfang Dezember 2024Bild: Mahmoud Hasano/REUTERS

Schwierige Sicherheitslage

Hubschrauber werfen keine Fassbomben mehr ab, und russische Flugzeuge fliegen keine Angriffe mehr auf Kliniken. Dennoch kämpft Syrien, wie auch ein Briefing des UN-Sicherheitsrats im November feststellte, weiterhin mit einer schwierigen Sicherheitslage. So sind die Haupt-Siedlungsgebiete von Bevölkerungsgruppen wie Kurden und Drusen nicht unter zentraler Kontrolle, Konflikte mit der Minderheit der Alawiten verliefen blutig und sind im Kern weiter ungelöst.

Die Hauptstadt Damaskus ist vergleichsweise ruhig. Laut Syria Weekly, einem regelmäßigen Newsletter von Charles Lister, einem Experten des US-amerikanischen Middle East Institute, ging die Gewalt zuletzt tendenziell zurück.

Dennoch kommt es weiterhin zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften der neuen syrischen Regierung und anderen Gruppen im ganzen Land. Auch die Assad-treuen Kräfte sind weiterhin präsent, wenngleich verdeckt. Problematisch ist das Wiedererstarken der extremistischen Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS), denn sie nutzt die lückenhafte Sicherheitslage aus.

Auch einem Bericht der European Union Agency for Asylum (EUAA) zufolge haben die neuen syrischen Machthaber keine vollständige Kontrolle über das Land. "Berichtet wird von Fällen von Gesetzlosigkeit, Kriminalität und Vergeltungsgewalt", so die Agentur.

Streitpunkt Übergangsjustiz

Einer der großen Konflikte und Hauptgründe für anhaltende Gewalttaten ist die Verfolgung mutmaßlicher ehemaliger Kollaborateure des Assad-Regimes. Deshalb sei eine funktionierende Übergangsjustiz - ein Prozess, der die vom Assad-Regime und anderen Gruppen begangenen Verbrechen anerkennen würde - so wichtig, heißt es in einem Artikel des in Washington ansässigen Syria Justice and Accountability Center (SJAC) aus dem vergangenen September.

Im Mai setzte die Regierung zwei unabhängige Kommissionen ein: eine zur Suche nach den Tausenden nach Assads Sturz weiterhin vermissten Syrern. Und eine weitere, die die vom Assad-Regime begangenen Verbrechen untersuchen soll.

Laut SJAC war die erstgenannte Kommission sehr aktiv. Die zweite hingegen habe "weniger Fortschritte erzielt, möglicherweise aufgrund mangelnder Unterstützung durch die Zentralregierung".

Alawiten in Köln demonstrieren im März 2025 gegen verübte Gewalttaten an ihren Glaubensbrüdern in Syrien Bild: Alevitische Gemeinde Deutschland e.V.(AABF)

Internationale Menschenrechts-Organisationen wie Human Rights Watch haben zudem die syrische Nationale Kommission für Übergangsjustiz kritisiert: Diese untersuche nur jene Verbrechen, die von Assads Regierung begangen wurden. Die Verbrechen anderer Gruppen - wie möglicherweise der HTS-Miliz, die Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa einst kommandierte - übersehe sie hingegen.

Noch keine direkten Wahlen

Syrien hielt Anfang des Jahres seine ersten, zumindest vergleichsweise freien Wahlen für das Parlament ab. Aufgrund der schwierigen Umstände im Land - so die Begründung der Übergangsregierung - konnten aber nicht die Bürger direkt, sondern nur beauftragte Personen in Form von Wahlkollegien ihre Stimmen abgeben. Al-Scharaa bleibt bis zum Inkrafttreten einer neuen Verfassung Interimspräsident.

Syrien arbeitet derzeit allerdings an einer neuen Verfassung und hat einen nationalen Dialog angestoßen, in dessen Rahmen unterschiedliche Gruppen der Zivilgesellschaft und Bürger über verschiedene Themen debattieren.

Hinsichtlich der zukünftigen Regierungsführung des Landes bestehen jedoch weiterhin erhebliche Differenzen zwischen der Übergangsregierung und verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Kritiker werfen al-Scharaa zudem vor, seine Macht zu festigen und sich zunehmend wie ein Autokrat zu verhalten.

​​Suche nach Vermissten aus der Ära von Diktatur und Krieg in DamaskusBild: Yamam Al Shaar/REUTERS

Demokratisierung oder Rückschritt?

"Es ist sicherlich noch zu früh, von einer Demokratisierung Syriens zu sprechen, aber die neu entstandenen Institutionen stellen einen zaghaften Wiedereinstieg in die Wahlpolitik dar", schrieb Patricia Karam, Mitarbeiterin des Arab Center Washington, im November in einem Artikel. Viele internationale Analysten sehen dies so oder ähnlich. Die Entwicklungen brächten Syrien an einen Wendepunkt, meint Karam: Das Land könne zu einer echten partizipativen Regierungsführung finden - es könne aber auch in den Autoritarismus zurückfallen.

Internationale Präsenz, aber auch Spannungen

Die Außenpolitik ist der Bereich, in dem Syrien die wohl größten Veränderungen durchlaufen hat. Ehemals geschlossene Botschaften werden wiedereröffnet, Übergangspräsident al-Scharaa bewegt sich souverän auf internationaler Ebene.

Al-Scharaa, der einst mit der Terrorgruppe al-Kaida zusammenarbeitete, stand zuvor auf zahlreichen Sanktionslisten. Auf ihn war sogar ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt. Doch im September konnte er vor der UN-Generalversammlung sprechen. Und im November war er der erste syrische Staatschef seit 1946, der das Weiße Haus besuchte.

Donald Trump und Ahmed al-Scharaa (l.) im Weißen Haus in Washington, November 2025Bild: SANA/AFP

Syrische Regierungsvertreter haben zudem Kontakt zu allen fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats aufgenommen, darunter Russland und China. Dies wird als Zeichen für die zunehmende Pragmatik der syrischen Außenpolitik gewertet: Russland war ein Verbündeter des Assad-Regimes, und al-Scharaa sowie viele seiner Kollegen wären zuvor eher Ziele russischer Angriffe.

Das größte außenpolitische Problem dürften aber die anhaltenden israelischen Grenzverletzungen sein. "Israelische Militäroperationen … gefährden Zivilisten, verschärfen die regionalen Spannungen, untergraben die fragile Sicherheitslage und bedrohen den politischen Übergang", erklärte die stellvertretende UN-Sondergesandte für Syrien, Najat Rochdi, im November.

Rückkehr in Trümmerlandschaften

Viele während des Krieges aus dem Land geflohene Syrer sind inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt. Jüngsten Zahlen zufolge sind etwa 2,9 Millionen Syrer wieder in ihrer alten Heimat. Dabei handelt es sich um rund 1,9 Millionen Binnenvertriebene und etwa eine Million Rückkehrer aus dem Ausland.

Doch sie stehen vor erheblichen Problemen. Angaben des Norwegischen Flüchtlingsrats zufolge finden viele zurückgekehrte Familien in ihrer alten Heimat nichts als Trümmer vor. Die Infrastruktur ist zerstört, ebenso sind es Schulen und Krankenhäuser. Zudem gibt es teils Streitigkeiten, wem ihre Häuser gehören. Im November berichtete das International Rescue Committee, es seien über die Hälfte der Wasserversorgungsnetze und vier von fünf Stromnetzen entweder zerstört oder nicht funktionsfähig. Die geschätzten Kosten für den Wiederaufbau in Syrien liegen zwischen 250 Milliarden US-Dollar (172 Milliarden Euro) und 400 Milliarden US-Dollar (345 Milliarden Euro).

Womöglich könnten sie sogar noch höher ausfallen. Eine aktuelle, auf Satellitenbildern der nächtlichen Beleuchtung im Land basierende Analyse der US-amerikanischen Hilfsorganisation Mercy Corps ergab zwar, dass sich die Stromversorgung verbessert habe. Allerdings gilt dies nicht landesweit.

Anfang November meldete die syrische Nachrichtenagentur SANA, landesweit seien 823 Schulen renoviert worden, während die Arbeiten an weiteren 838 Schulen andauerten. 

Materielle Verbesserungen "noch nicht spürbar"

Viele der Rückkehrer finden zudem keine Arbeit. Der Bürgerkrieg hat die Wirtschaft des Landes schwer getroffen. Noch heute lebt etwa ein Viertel der Syrer in extremer Armut. Es gibt aber auch gute Nachrichten: Ein im Juli dieses Jahres veröffentlichter Bericht der Weltbank prognostiziert für die syrische Wirtschaft ein Wachstum von immerhin einem Prozent bis 2025. Die meisten Sanktionen aus der Assad-Ära wurden dauerhaft oder vorübergehend aufgehoben, was die wirtschaftliche Erholung fördern dürfte.

Zusätzliche Finanzhilfen von Ländern wie Saudi-Arabien und Katar in Form von Investitionsabkommen in Milliardenhöhe könnten ebenfalls helfen - doch wie das Tahrir Institute for Middle East Policy betonte: "Die materiellen Auswirkungen auf den Alltag der Syrer sind noch nicht spürbar".

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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