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Ein Künstler und der Nazireflex

19. Januar 2012

Martin Zet ruft dazu auf, ein umstrittenes Buch an Sammelstellen abzugeben. Aus 60.000 Exemplaren will er eine Installation bauen und sie dann "recyceln". Prompt kommt der Nazi-Vergleich. Voreilig oder angemessen?

Anti-Nazi-Fahne (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Thilo Sarrazin ist schon einen Schritt weiter, während sein Erstling gerade mal wieder für Diskussionen sorgt: Er will sich der europäischen Schuldenkrise widmen. Ein Buch sei in Arbeit, heißt es. Garantiert wird es sich nicht so gut verkaufen wie sein umstrittener Bestseller "Deutschland schafft sich ab", denn 1,3 Millionen Exemplare sind schwer zu überbieten - so oft ist Sarrazins Buch bislang alleine in Deutschland verkauft worden. Seine eigenwilligen Thesen zur deutschen Integrationspolitik, die er darin zementiert, wurden 2010 in Deutschland leidenschaftlich diskutiert.

Ein Mann und sein Bestseller - immer noch ein AufregerBild: AP/DW-Fotomontage

Martin Zet hat diese Thesen erst 2011 gelesen - als das Werk auf Tschechisch erschien. Wie viele Kritiker zuvor, war der tschechische Künstler danach der Meinung, dieses Buch fördere anti-migrantische und hauptsächlich anti-türkische Tendenzen in Deutschland. Deshalb schlug er Mitte Januar vor, "das Buch als aktives Werkzeug zu benutzen, welches den Menschen ermöglicht, ihre eigene Position zu bekunden". So steht es auf der Website der 7. Berlin Biennale.

Kettenreaktion mit Nazis

Hier ruft Zet außerdem alle, die wollen, dazu auf, ihr Sarrazin-Exemplar an einer von mehr als 20 Sammelstellen in ganz Deutschland abzugeben. Mindestens 60.000 sollen zusammenkommen, aus denen er dann eine Installation für die Berlin Biennale gestalten werde, die Ende April eröffnet. Nach der Ausstellung sollen die Bücher für einen guten Zweck recycelt werden, heißt es.

Diese Kombination aus "sammeln" und "recyceln" war wohl problematisch. Sie setzte eine Kettenreaktion in Gang, in der von Anfang an das Wort "Nazi" vorkam. Bereits im ersten von mehr als 400 Kommentaren unter dem öffentlichen Sammelaufruf auf der Biennale-Website schreibt ein User, es gebe hier eine "Ähnlichkeit der Bücher(ein)sammlungen der Nazis zwecks 'Recycling'".

Martin Zet hatte zwar nie gesagt, er wolle unliebsame Bücher zerstören oder gar verbrennen, so wie die Nationalsozialisten 1933, aber in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Welt" bekannte er, dass er zwar an die historischen Ereignisse gedacht habe, "aber ich dachte auch, Deutschland ist darüber hinweg. Ich wusste nicht, dass das Land davon noch so traumatisiert ist. Ich habe durchaus mit heftigen Reaktionen gerechnet - aber eher in Bezug auf Gegenwart und Zukunft".

Fakten und Suggestion

Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933Bild: AP

Am 10. Mai 1933 hatten Mitglieder des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes öffentliche Bücherverbrennungen in mehreren deutschen Städten organisiert. Zuvor, im April, waren bereits Listen mit Autoren veröffentlicht worden, die im Sinne der Nazis aus dem kulturellen und geistigen Leben des neuen Deutschlands verbannt werden sollten. Bertolt Brecht stand auf dieser Liste, ebenso wie Albert Einstein, Kurt Tucholsky oder Heinrich Heine. Vor der Verbrennung hatten die Organisatoren unter anderem dazu aufgerufen, diese angefeindete Literatur an Sammelstellen abzugeben und nannten das "Büchersammelaktion". Der Künstler Martin Zet spricht jetzt von einer "Buchsammelaktion", was bei Werner Treß dazu geführt hat, dass sich seine Nackenhaare aufstellten.

Der Historiker des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam hatte über einen Link bei Facebook von der geplanten Aktion erfahren und sofort öffentlich protestiert, weil der Begriff "recyceln" suggeriere, dass das Buch in größeren Mengen zerstört werden solle. Außerdem sei die Buchsammelaktion an sich "tatsächlich etwas, was in der Praxis dem, was die Nationalsozialisten 1933 gemacht haben, sehr nahe kommt".

Politisch korrekter Reflex

Flyer der Kunstaktion von Martin Zet

"Es geht hier nicht darum, ob die Deutschen ein Trauma überwunden haben", so Werner Treß, "sondern es geht darum, ob wir solch eine Praxis überwunden haben. Ich dachte eigentlich, dass wir uns auf ein solches Niveau nicht mehr begeben, dass Bücher zerstört werden." Jedes Buch sei ein kultureller Wert an sich und dürfe nicht öffentlich zerstört werden - auch nicht unter dem Deckmantel der künstlerischen Freiheit, selbst nicht, wenn dadurch eine konstruktive Diskussion in Gang gesetzt werde. "Ich bin der Auffassung, dass Kunst, die einen moralischen Anspruch erhebt und auf Missstände in der Gesellschaft hinweist, sich nicht selbst über diese sittlichen Maßstäbe erheben darf", so Werner Treß.

Abgesehen von der alten Frage, was Kunst darf und was nicht, diskutieren User in den Kommentarleisten der Berlin Biennale, ob der schnelle Nazi-Vergleich tatsächlich angebracht oder ein typisch deutscher Reflex ist - politisch korrekt und sogar notwendig. Wäre es nicht viel schlimmer gewesen, wenn Martin Zet gar nicht kritisiert worden wäre? Ist es nicht gut, dass diese Reflexe noch funktionieren und zeigen: es passen welche auf?

So schreibt "Katja" am 13.01.2012 auf den Seiten der Berlin Biennale: "Zerstörung ist einfach zu brutal vor dem Hintergrund der Geschichte, und sie ist auch ein Akt der Verdrängung, nicht der Auseinandersetzung. Gut, dass es offensichtlich noch genügend Menschen gibt, die sich dessen bewusst sind und die Aktion falsch finden, dazu gehöre ich auch". Und "Tom Rheker" kommentiert: "Diese Aktion hat leider zuviel mit Vernichten zu tun. Vernichten von Ideen, von Ideen vielleicht anders Denkender (oder eben auch nicht)".

Ungewollt gewollte Aufmerksamkeit

Bild: flickr / mermaid99

"Melanie" dagegen schreibt am 14.01.2012, sie finde die Aktion gut, denn "es ist meiner Ansicht nach ein großer Unterschied, ob der Staat in einer gezielten Aktion Bücher von Künstlerinnen und Künstler verbrennt und damit politisch Meinungen unterdrückt oder wenn einfach ein Kunstprojekt mit einer bestimmten Form 'Meinung' Bücher sammelt und damit ein politisches Statement setzt. Dass das hier ständig miteinander verwoben wird, find ich total problematisch".

Martin Zet selbst kann die meiste Kritik zwar nachvollziehen, er betont aber seit ihrem Aufkommen immer wieder, er habe ja nie geplant, Bücher zu zerstören. Er wisse noch gar nicht, was genau er mit den Büchern nach der Installation machen werde, die Installation sei ja auch schon eine Art Recycling. Er bedauere allerdings, so Zet, dass die Aufmerksamkeit momentan abdrifte von dem Thema, das ihm eigentlich am Herzen liege: Die Diskussion über den Umgang mit Migranten, die nicht zum ökonomischen Wohlstand ihres neuen Heimatlandes beitragen.

Seine Installation möchte er weiterhin realisieren. Die Frage ist nur, ob er die angepeilten 60.000 Bücher zusammen bekommt. "Ich würde jetzt gerne lügen und sagen: ich habe bereits 15.000 zugeschickt bekommen", lacht er, "aber ich bleibe lieber bei der Wahrheit: noch sind erst drei bei mir angekommen."

Autorin: Marlis Schaum
Redaktion: Cornelia Rabitz

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