Ein konstitutives Element der eigenen Identität
30. Juli 2004Bonn, 30.7.2004, DW-RADIO / Polnisch, Hubert Wohlan
Es ist das erste Mal, dass ein deutscher Regierungschef zu den Feierlichkeiten des 1. August nach Polen eingeladen wurde: Am Sonntag (1.8.) reist Gerhard Schröder zu den Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands. Am 1. August 1944 erhob sich die polnische Widerstandsbewegung gegen die deutschen Besatzer. Zwei Monate später wurde der Aufstand brutal niedergeschlagen. 200 000 Menschen starben, fast alle Überlebenden wurden aus der Stadt vertrieben. Zur Bedeutung dieses Aufstandes für das kollektive Bewusstsein der Polen ein Kommentar von Hubert Wohlan:
Noch vor 10 Jahren war der Warschauer Aufstand in Deutschland ein fast unbekanntes Kapitel der polnischen Geschichte. Der damalige deutsche Staatspräsident Roman Herzog, eingeladen vom polnischen Staatsoberhaupt Lech Walesa, nahm als erster deutscher Politiker an den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Aufstandes in Warschau teil und hinterließ in Polen einen sehr guten Eindruck: Er bat um Vergebung für die Untaten der Nazis, und diese Geste wurde an der Weichsel als aufrichtig und ehrlich aufgenommen. Sogar die mitunter argwöhnisch reagierenden polnischen Medien haben dem deutschen Staatspräsidenten nachgesehen, dass er in Interviews den Warschauer Aufstand von 1944 mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943 verwechselt hat. Nun ist aber der ehemalige deutsche Staatspräsident diesbezüglich keine Ausnahme. Mit dem Auseinanderhalten beider Aufstände haben sogar die Amerikaner enorme Schwierigkeiten.
Die Bedeutung des Warschauer Aufstandes für das kollektive Bewusstsein der Polen kann nur aus dem historischen Kontext erklärt werden. Als sich die polnische Untergrundarmee - die "Heimat-Armee" (Armia Krajowa) - am 1. August 1944 für den Aufstand entschied, war die militärische Situation der Aufständischen bereits hoffnungslos. Dennoch wagte man diesen Aufstand, weil man Warschau symbolisch befreien wollte, bevor die Rote Armee die Stadt einnahm. Am Ostufer der Weichsel, ganze zwei Kilometer vom Zentrum Warschaus entfernt, gingen bereits die ersten Mannschaften der sowjetischen Roten Armee in Stellung. Die Erstürmung der Stadt schien nur eine Frage von Tagen zu sein.
Dazu kam es aber nicht. Der Aufstand endete nach 63 Tagen mit einer katastrophalen Niederlage. Über 200 000 Tote, 350 000 Menschen wurden in Konzentrationslager verschleppt, über 120 000 zur Zwangarbeit nach Deutschland verfrachtet. Die Sowjetarmee blieb die ganzen 63 Tage des Aufstandes am Ostufer der Weichsel stehen und sah zu, wie der Aufstand ausblutete. Auch die Alliierten - Amerikaner und Engländer - haben den Aufständischen nicht geholfen.
Der niedergeschlagene Aufstand hat traumatische Spuren im polnischen Nationalbewusstsein hinterlassen. Generationen von Polen wuchsen in der Enttäuschung auf, das hohe Blutopfer umsonst erbracht zu haben. Dieses Gefühl verstärkte sich in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit, als die Koexistenz mit den kommunistischen Regimen in Europa die offizielle Staatsdoktrin des Westens wurde. Das öffentliche Erinnern an den Aufstand war in Polen bis zur politischen Wende 1989 verboten, weil man Sowjetrussland nicht verärgern wollte. Somit wuchs der Warschauer Aufstand im nationalen Bewusstsein noch mehr zu einer mythischen Größe, zum Symbol des Kampfes für Freiheit und Unabhängigkeit.
Heute wird im polnischen Selbstbewusstsein der Aufstand allgemein als ein konstitutives Element der eigenen Identität in Europa angesehen. Gerade diesen Gedanken griff auch Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Rede zum 60. Jahrestag des Attentats auf Hitler auf. Er bescheinigte dem Warschauer Aufstand, "ein flammendes Zeichen auf dem Weg zu einer wahren europäischen Wertegemeinschaft zu sein". Auf solche Ehrung haben die Polen lange gewartet. (TS)