Tadschikistan vor dem Kollaps?
5. September 2009Der Basar in Ishkashim an der tadschikisch-afghanischen Grenze ist vor allem für die Tadschiken auf der Nordseite der Grenze ein Highlight der Woche. Schon am Morgen fahren klapprige Taxis aus der Stadt an den Grenzposten vor der Metropole auf der tadschikischen Seite des Flusses Pjansch.
Ein Tor mit tadschikischen Grenzern davor, eine Brücke über den Fluss und schon ist man in Afghanistan, auf einem Markt, nicht größer als ein Fußballfeld. Der, obwohl nur ein staubiges Stück Niemandsland, würde jedem Basar im Orient Ehre machen. Es wird gefeilscht, Ware schön geredet und lauthals geschimpft, wenn etwas doch teurer ist als erwartet.
Geschäftstüchtiger als die Tadschiken
Die Tadschiken finden bei den afghanischen Händlern, was es in Ishkashim nicht gibt: Teppiche, Stoffe, Haushaltsgeräte, Radios, CDs und DVDs, Getreide, Kartoffeln. Alles bringen die Afghanen heran, um es ihren Nachbarn aus Tadschikistan zu verkaufen.
"Die Ware ist einfach billiger als bei uns", sagt eine Tadschikin, die sich für die bunten Stoffe eines Afghanen interessiert. "Deshalb kommen wir regelmäßig hier herüber."
Die Tadschikinnen decken sich meterweise mit Stoffen ein, aus denen sie sich später selbst Kleider schneidern. Die Ware komme aus Pakistan, Indien und China, erzählt der afghanische Händler, der selbst in der Provinz Badakhshan, dem nordöstlichsten Zipfel Afghanistans lebt.
Obwohl die Afghanen in ihrem Land mit weitaus schwierigeren strukturellen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen zurechtkommen müssen, erscheinen sie hier in Ishkashim viel geschäftstüchtiger und souveräner als die Tadschiken.
Drohender Zusammenbruch des Staates
Afghanistan gilt als der schwache Nachbar Tadschikistans – hinter der Grenze beginnt das Chaos, so sehen das auch die Tadschiken. Doch in Tadschikistan ist die wirtschaftliche Situation kaum besser als im südlichen Nachbarland. Zwar gilt Tadschikistan, die südlichste der GUS-Republiken, heute wie auch schon zu Sowjetzeiten als äußerste Demarkationslinie des Abendlandes gegenüber dem Orient, als politisch stabiles Bollwerk gegen den Unruheherd Afghanistan, auch für Europa. Doch inwieweit kann das Land diese Aufgabe überhaupt noch meistern?
Im Februar dieses Jahres legte die "International Crisis Group" (ICG) eine Studie vor, in der sie vor einem möglichen Kollaps des tadschikischen Staates warnt.
Die Europäische Union betrachtet das Land – durch die Zentralasien-Strategie gemeinsam mit den anderen mittelasiatischen Nachbarrepubliken in den europäischen und vor allem deutschen Politik-Fokus geraten – bisher als zuverlässigen und stabilisierenden Partner in der Region. "Theoretisch aber", so die ICG-Studie, "kann das Regime von Präsident Rahmonow jeden Moment kollabieren."
Clansystem und Vetternwirtschaft
Emomalii Rahmonow gelangte im Zuge des tadschikischen Bürgerkriegs von 1992 bis 1997 an die Macht. Damals wurde das Land von Auseinandersetzungen zwischen islamischen Fundamentalisten, alten Sowjetkadern und vage westlich orientierten Oppositionellen aufgerieben.
Durchgesetzt haben sich schließlich die Anhänger Rahmonows, der, selbst Repräsentant der Sowjetära und seit 1994 Präsident, bis heute gemeinsam mit einer Clique von Vertrauten die Macht in Händen hält.
Shokirjon Hakimow, Politologe und Dekan der Fakultät für Recht und Internationale Beziehungen an der tadschikischen Internationalen Universität in Duschanbe, kritisiert die Herkunft der Regierungsriege: "Diese Leute haben zu Zeiten des Bürgerkriegs Karriere gemacht, ohne Ausbildung, ohne politische Erfahrung, sie sind ohne irgendwelche Papiere zur wirtschaftlichen und politischen Elite geworden."
Auch das "Zentrum für Oststudien" (CES) in Warschau sieht Tadschikistan derzeit in einer prekären Lage – und Rahmonow in der Verantwortung. Die Probleme des Landes seien der Vetternwirtschaft, dem Clansystem, der Korruption, extremer Bürokratie und der Verwicklung staatlicher Strukturen in den Drogenschmuggel aus Afghanistan geschuldet. "Der Präsident und sein Clan kontrollieren nicht nur das politische Leben des Landes, sondern auch die Wirtschaft." Alle Schlüsselsektoren seien in der Hand der "Rahmonow-Leute".
Wirtschaftliche Talfahrt
Laut Informationen des Internationalen Währungsfonds erlebt Tadschikistan derzeit einen schweren ökonomischen Schock, verursacht durch die globale Wirtschaftskrise, der aber vor allem durch die inneren Strukturprobleme verstärkt werde.
Im Vergleich zum Vorjahr sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Tadschikistans in den ersten Monaten dieses Jahres um etwa 50 Prozent, die Industrieproduktion um 18 Prozent. Erschüttert wird das Land jedoch von den wegfallenden Überweisungen der tadschikischen Gastarbeiter, die aus Russland oder Kasachstan zurückkehren, weil auch diese Länder von der globalen Krise betroffen sind.
Laut IWF waren im Jahr 2008 1,5 Millionen Tadschiken im Ausland tätig – mehr als die Hälfte der arbeitsfähigen Einwohner Tadschikistans. Die Überweisungen der Arbeitsmigranten betrugen mehr als zwei Milliarden US-Dollar, rund 43 Prozent des tadschikischen BIP – das sind jedoch nur vorsichtige Schätzungen.
Was die Gastarbeiter nun bei ihrer Rückkehr vorfinden, dürfte kaum zur Stabilität des Landes beitragen. Vor allem in der Region Pamir kam es in den vergangenen Monaten wiederholt zu Demonstrationen, die die Vormacht Rahmonows in Frage stellten. Dabei ertragen die Tadschiken ihre Lage nach dem Trauma des Bürgerkriegs bisher geradezu demütig.
Im Schatten der afghanischen Zivilgesellschaft
Gisela Hayfa, Chefin der "Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit" (GTZ) in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe hält das Land trotzdem nicht für politisch gefährdet:
"Es ist ein stabiles Land, vielleicht sogar zu stabil." Auf der anderen Seite hält Hayfa die vor allem seitens der EU wohlwollende Einordnung des Landes nicht für angemessen - nämlich, dass Tadschikistan im Gegensatz zu Afghanistan nicht mehr als Entwicklungs- sondern als Transformationsland firmiere. Doch gerade diese Einschätzung sei fern der Realität, meint Hayfa:
"In Afghanistan ist die Zivilgesellschaft viel weiter entwickelt, die Presse ist dort kritischer und freier als in Tadschikistan."
Umet Babakhanow, Gründer der tadschikischen Medien-Gruppe "Asia Plus" räumt Selbstzensur ein: "Wir balancieren stets auf Messers Schneide, kann ich dieses oder jenes thematisieren oder wird es dann Probleme geben? Mal sagen wir: 'Komm', lass uns die zwei Worte noch schreiben. Beim nächsten Artikel lassen wir es!' Die Angst, offen zu reden, gibt es in der gesamten Gesellschaft."
Die Zeitung und der Radiosender "Asia Plus" haben - wie nur wenige tadschikische Medien - die zunehmende Krise in Tadschikistan verfolgt und Fragen gestellt, doch befriedigende Antworten bekamen sie bisher nur selten. Ein Dauerbrenner ist die Energiekrise Tadschikistans.
Marode Infrastruktur und fehlende Investitionen
Wie im Winter 2007/08 ist es der Regierung auch im vergangenen Winter nicht gelungen, die Energieprobleme des Landes zu lösen. Selbst in der Hauptstadt Duschanbe wurde mehrere Wochen lang stundenweise der Strom abgeschaltet. Nur ein paar Dutzend Kilometer von Duschanbe entfernt waren die Menschen komplett von der Stromversorgung abgeschnitten.Grund dafür ist die marode Infrastruktur, Investitionen in neue Wasserkraftwerke - Wasser ist die einzige eigene Ressource zur Energiegewinnung - kann Tadschikistan aus eigener Kraft nicht leisten. Internationale Unternehmen machen lieber einen großen Bogen um Wasserkraftwerke wie in Rogun oder Sangtuda - zu groß ist die wirtschaftliche Unsicherheit.
Auch die Privatwirtschaft ist stark unterentwickelt und von Bürokratie und Korruption geprägt, es gibt jede Menge Hürden für kleine und mittlere Unternehmen. Eigeninitiative wird geradezu systematisch unterbunden. "Doch ohne wirtschaftliche Entwicklung", so Babakhanow, "sind auch Freiheit und Demokratie nicht möglich." Das "Zentrum für Oststudien" (CES) in Warschau warnt deshalb davor, dass Tadschikistan – sollte sich die Situation noch weiter zuspitzen – bald zu den "failed states", den gescheiterten Staaten, zählen werde.
Was bedeutet das jedoch für die Europäische Union und die NATO? Beide würden einen bisher als Insel der Stabilität geltenden Partner in Zentralasien verlieren, und vor allem die NATO einen Rückhalt, der für die Operationen in Afghanistan unerlässlich ist. Denn bisher dient Tadschikistan als wichtiger Transport- und Versorgungskorridor aus Zentralasien nach Afghanistan.Ebenso bestehe die Möglichkeit, so das CES, dass die Taliban oder El Kaida ihre Aktivitäten in der Region ausweiten könnten, um so eine neue Front gegen die NATO-Streitkräfte zu eröffnen.
Staatliche Repressionen
Bisher ist Tadschikistan ein säkularer Staat, der, obwohl traditionell muslimisch geprägt, die Religion aus der Politik heraushält. Genau wie die anderen zentralasiatischen Staaten will auch die tadschikische Regierung radikale religiöse Tendenzen unterbinden. Doch nutzt der Staat diesen Kampf gegen die Extremisten auch, um generell alle Gegner des Regimes auf Regierungskurs zu bringen.
So wurde im März dieses Jahres ein neues Religionsgesetz verabschiedet, das die Registrierung religiöser Gruppierungen erschwert und dem Staat die Zensur religiöser Literatur und die Kontrolle religiöser Rituale ermöglicht. Wie fast überall in Zentralasien gehört die Mehrheit der Tadschiken dem sunnitischen Glauben an, doch auch Schiiten oder Juden sind als Minderheiten präsent. Das neue Gesetz, so kritisieren internationale Beobachter, diene vor allem dazu, die Religionsfreiheit stark einzuschränken.
Rückkehr zu patriarchalischen Strukturen
Offiziell gilt in Tadschikistan ein Kopftuchverbot an Schulen und Universitäten. Doch aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation zeichnet sich in den Familien ein Trend zurück zu patriarchalischen Strukturen ab. Vor allem Frauen werden dadurch benachteiligt. Immer weniger Mädchen besuchen Schulen und Universitäten. Da Arbeitsplätze knapp sind, bleiben sie meist den Männern vorbehalten.
Marzia, eine Tadschikin aus Duschanbe, ist der zunehmend schwierigen Situation in ihrem Land auf ihre Weise aus dem Weg gegangen. Sie arbeitet für eine internationale Hilfsorganisation in Kundus in Afghanistan und hat einen afghanischen Mann. Sie sprechen dieselbe Sprache – Farsi. Dass sie in Afghanistan stets nur mit Kopftuch auf die Straße gehen kann, stört sie nicht, auf die Burka hat sie sich aber nicht eingelassen und fällt deshalb auf.
Auch dass sie als Frau arbeitet, ist eine Ausnahme in Kundus. "Mein Mann hat nichts dagegen", so Marzia. Die Tadschikin ist sicher eine Ausnahme. Doch wie die Tadschiken in Ishkashim im Pamir, die auf den Grenzhandel setzen, ist auch sie der Meinung, dass Afghanistan derzeit mehr zur Entwicklung Tadschikistans beisteuert als umgekehrt.
Edda Schlager
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