Ein Paket wird 70 - who cares?
27. November 2015Berlin. Eine junge Frau reiht sich ein in die lange Schlange der Wartenden. Müde und hungrig sehen sie aus, doch voller Hoffnung auf das, was sie hier bekommen sollen. Mitarbeiter des Roten Kreuzes kümmern sich um die Wartenden.
Es ist 1949, die junge Frau heißt Anita Stapel und sie steht an für ein Care-Paket im zerbombten Nachkriegs-Berlin. Als die damals 20-Jährige das Hilfspaket in ihren Händen hält, kann sie ihr Glück kaum fassen: "Ich bekam dieses Paket und es war unglaublich", erzählt Stapel, heute 87 Jahre alt. "Das waren alles Dinge, die wir nicht hatten." Zucker, Mehl, Milchpulver, sogar eine Schlackwurst, die man heute wohl Salami nennen würde, ist dabei. "Ein Lottogewinn", sagt Stapel.
In den Monaten zuvor hatte sie, hochschwanger, permanent unter Hunger gelitten. Mit der Berlin-Blockade Moskaus kamen immer weniger Lebensmittel in die Stadt. "Leider war die Zeit sehr, sehr schlecht. Es gab wirklich nichts Frisches zu Essen. Es gab nur trockene Kartoffeln, ganz wenig Brot, kaum Fett. Alles, was man braucht, um sich gesund zu ernähren, gab es nicht."
Hilfspakete ins Feindesland
Nur noch 48 Kilogramm wog sie nach der Geburt ihres Sohnes. Ein Arzt hatte Mitleid und sorgte dafür, dass Stapel auf die Liste der Care-Paket Empfänger gesetzt wurde. "Das war natürlich tagelang ein Schlemmen", so Stapel. "Aber weil wir ja ans Einteilen gewöhnt waren, haben wir auch das eingeteilt und nicht alles am Stück in zwei Tagen genossen, sondern haben das über mehrere Tage verteilt".
Die Lebensmittel, von denen Stapel und ihre Familie tagelang zehrten, hatten Spender aus den USA in geschickt. Bereits am 27. November 1945, nur wenige Monate nach Kriegsende, gründeten dort 22 Wohlfahrtsverbände die private Hilfsorganisation Care. Sie unterstützen Menschen im kriegszerstörten Europa, oft verarmt, verwundet und aus der Heimat geflohen. Schon bald auch im ehemaligen Feindesland Deutschland.
Nur Fallobst, kein Fleisch
"Diese Aktion damals war ein großer Ausdruck von Solidarität und hat einen ganz wichtigen Beitrag zur Versöhnung nach dem Krieg geleistet", sagt Karl-Otto Zentel, Geschäftsführer von Care Deutschland-Luxemburg, einer von insgesamt 14 Care-Organisationen weltweit ."Das ist ein Beispiel dafür, dass man unterscheidet zwischen Regimen und Menschen. Menschlichkeit muss immer im Vordergrund stehen."
Für die Hilfsbereitschaft der früheren Kriegsgegner in den USA war auch Irmgard Kruse dankbar, die 1945 als Dreijährige mit ihrer Familie vor der Roten Armee aus Swinemünde im heutigen Polen nach Westen geflohen war. "Am 7. Mai sind wir in Lübeck gewesen, am 8. Mai war Kapitulation", erinnert sich Kruse im Gespräch mit der DW. Als jüngstes von vier Kindern wächst sie dort als Flüchtling in der Armut der Nachkriegszeit auf. "Wir wohnten, schliefen, kochten, aßen und gingen zur Toilette in einem einzigen Zimmer. Wir sammelten zwar Fallobst, hatten aber keinen Krümel Fett oder Fleisch."
Im November 1946 erreichte sie das erste Care-Paket. Darin, neben Lebensmitteln, auch Kleidung für die Kinder, bunter und schöner als alles, was sie bisher kannten. In einer Jackentasche lag ein Zettel mit der Anschrift der amerikanischen Spender. "Wir haben dann bald Kontakt aufgenommen. Und 1969 haben wir sie sogar getroffen, sie kamen nach Deutschland. Und seitdem haben wir ein ganz inniges Verhältnis mit dieser Familie. Das ist wie Verwandtschaft."
Die kontinuierliche Katastrophe
Heute, 70 Jahre nach Gründung von Care, leistet die Organisation weiter Hilfe für Menschen in Not, mittlerweile in 90 Ländern. Etwa auf dem Balkan, wo Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Westeuropa versorgt werden. Nicht in Paketen, sondern in Plastiktüten erhalten sie das Nötigste, zum Beispiel Babybrei und Damenbinden.
"Ich würde sagen, 2015 ist diese Arbeit noch wichtiger als sie es 1945 war", sagt Care-Geschäftsführer Zentel der DW. "Damals war der Krieg zu Ende und der Wiederaufbau begann. Jetzt sehen wir weltweit Kriege, etwa in Syrien, die weit davon entfernt sind, zu enden. Das sind kontinuierliche Katastrophen." Das klassische Care-Paket kommt dabei immer seltener zum Einsatz. Care versuche eher, Menschen zur Selbsthilfe zu ermächtigen, so Zentel. Die Hilfsorganisation will sich dabei auf die Förderung von Frauen und Mädchen konzentrieren.
Hilfe aus Dankbarkeit
Für Anita Stapel nahm das Leben nach dem Krieg eine gute Wendung. Sie blieb in Berlin, konnte sich mit ihrem Mann Wohlstand erarbeiten. Das Leben habe es gut mit ihr gemeint, so sagt sie. "Ich spende heute noch, weil ich weiß, wie sich Hunger anfühlt. Dieses Paket war ein Geschenk. Das war wie Ostern, Weihnachten und Pfingsten an einem Tag."