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Ein Plädoyer für Marcel Proust

Julia Hitz
10. Juli 2021

Die Literaturwelt feiert den 150. Geburtstag von Marcel Proust. Seine "Suche nach der verlorenen Zeit" schreckt mit ihrem Umfang schon seit über 100 Jahren.

Portrait des französischen Schriftstellers Marcel Proust um 1871
Marcel Proust im Alter von circa 31 JahrenBild: Mary Evans Picture Library/picture alliance

Marcel Proust ist ein Stück europäische Kultur, sein Werk kreist um den Prozess des Sich-Erinnerns: Was erinnern wir, wann erinnern wir, wie erinnern wir? Und wie verändert sich die Erinnerung? "A la recherche du temps perdu" (dt. "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit)", kurz "La Recherche" ist Marcel Prousts Hauptwerk. Es umfasst sieben Bände und über 4000 Seiten. Proust nähert sich darin dem Erinnern mittels einer fiktiven Autobiografie.

Unlesbar?

Als ein Nationalheiligtum Frankreichs sei "La Recherche" auch ein "Zitat der sperrigen Lektüre" geworden, sagt Ulrike Sprenger, Professorin für Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie hat mit dem "Proust-ABC", das 1997 erstmalig beim Verlag Reclam erschien und jetzt neu aufgelegt und erweitert wurde, eine Einladung in die Proust'sche Welt geschaffen.

Marcel Proust als Wachsfigur im Chateu de Breteuil: Dieses Zimmer bewohnte er bei einem Besuch Bild: Herve Champollion/akg-images/picture alliance

Wer Proust liest, erwirbt bildungsbürgerliche Lorbeeren, zugleich gilt sein Werk als Sinnbild kaum zu bewältigender Literatur. Schon die britische Komikergruppe Monty Python arbeitete sich an Proust ab: In einem Sketch von 1972 wird ein Wettbewerb ausgerichtet, bei dem die Teilnehmenden sein Werk in 15 Sekunden zusammenfassen sollen. Natürlich ist niemand der Aufgabe gewachsen, am Schluss gewinnt "das Mädchen mit den größten Brüsten".

Ein Wälzer mit Botschaft

Auch heute behält das Zitat von Proust als sperrige Lektüre seine Gültigkeit. "Zuletzt begegnete er mir im Guardian (englische Tageszeitung, Anmerk. d. Red.) als Kommentar zum Lockdown", berichtet Ulrike Sprenger. "'They can lock me down, but they can not make me read Proust' ('Sie können einen Lockdown verhängen, aber sie können mich nicht zwingen, Proust zu lesen') hieß es da."

Proust habe die Stilisierung zum Denkmal nicht gewollt, sagt die Proust-Expertin. "Es geht ihm darum, eine Anleitung zu geben, das eigene Leben zu entdecken. Zu sehen, wie die Erinnerung funktioniert, wie man über sich selbst nachdenkt."

Proust und das Paris der Jahrhundertwende

Im Paris des Fin du Siècle kam Marcel Proust am 10. Juli 1871 als Sohn des Arztes und Hygienikers Adrien Proust und der jungen, aus einer jüdischen Bankiersfamilie stammenden Jeanne Weil zur Welt. Es war eine unruhige Zeit in Paris, so kurz nach dem Deutsch-Französischen Krieg und der Bildung des revolutionären Stadtrates. Proust hatte früh mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, mit neun erlitt er seinen ersten schweren Asthmaanfall.

Marcel Proust verkehrte in mehreren exklusiven Pariser SalonsBild: Mary Evans Picture Library/picture alliance

Als junger Erwachsener erschloss sich Proust die Pariser Gesellschaft durch den Besuch der Salons. Sie waren im 19. Jahrhundert ein exklusiver Treffpunkt der gut situierten bis adligen Gesellschaftsschichten; es gab Lesungen, Diskussionen und Musik. In seinem Hauptwerk stellt Proust Beobachtungen zur Atmosphäre und den Beziehungsgeflechten in den Salons an.

Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt

Herausragend an dem Roman ist die konsequente Inszenierung der menschlichen Subjektivität. Bereits der zweite Band wurde 1919 mit dem Prix Goncourt, der höchsten literarischen Auszeichnung Frankreichs, bedacht. Proust zeigt in "La Recherche", dass kein Mensch die Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann, da die Wahrheit eine eigene Konstruktion und als solche immer subjektiv ist. Andererseits liege in dieser einzigartigen subjektiven Wahrnehmung der Reichtum des Menschen. Über viele Seiten und in langen verschachtelten Sätzen tritt er den wortreichen Beweis dafür an.

Der Geschmack des Gebäckstücks "Madeleine" eröffnet dem Ich-Erzähler in Marcel Prousts Roman Zugang zu seinen ErinnerungenBild: Jiri Hera/Zoonar/picture alliance

Wer hat Angst vor Marcel Proust?

Die Beschäftigung mit Proust dauert bis heute an. Der britisch-schweizerische Schriftsteller und Philosoph Alain de Botton versuchte sich 1998 mit "Wie Proust Ihr Leben verändern kann" darin, einen zeitgemäßen Zugang zu schaffen. Zuletzt beschäftigte sich der legendäre israelische Historiker Saul Friedländer 2020 in dem Essay "Proust lesen" mit dem Jahrhundertroman.

Im Musée Carnavalet in Paris kann das Bett besichtigt werden, auf dem Proust sein Jahrhundertwerk schriebBild: Lionel Urman/abaca/picture alliance

Auch in Deutschland forschen nicht nur Sprach- und Literaturwissenschaftler über den Romancier. So erschien kürzlich eine historische Betrachtung von Lothar Müller zur Beziehung von Literatur und Medizin. Proust-Übersetzer und Experte Bernd-Jürgen Fischer erkundet in "Auf der Suche nach Marcel Proust" Familie und Freundeskreis des Schriftstellers, erschienen 2020 bei Reclam. Auch bisher unbekannte Texte Prousts sind zuletzt veröffentlicht worden.

"Proust lehrt uns hinzusehen"

Bleibt die praktische Erinnerung: Eine davon bietet der Besuch des frisch restaurierten Musée Carnavalet in Paris, wo das rekonstruierte Schlafzimmer von Marcel Proust zu den Höhepunkten zählt: In einem abgedunkelten Raum steht das recht kleine Metallbett, in dem Proust die letzten Jahre seines Lebens verbrachte und große Teile von "La Recherche" schrieb. Ulrike Sprenger findet, dass sich jede einzelne Seite Prousts lohnt. "Proust lehrt uns hinzusehen, zu verstehen, was uns wichtig ist, auf die kleinen Dinge zu achten, die einem etwas bedeuten."

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