Schwarzer September 1972
5. September 2012 Das Haus von Shaul Ladany im kleinen Ort Omer in der Negev-Wüste Israels sieht aus wie ein Museum. An den Wänden stehen in einem hohen Regal hinter Glas unzählige Pokale aus seinem langen Sportlerleben. Überall hängen Auszeichnungen und Urkunden an den Wänden, dazwischen auch Erinnerungen an München 1972.
Shaul Ladany hat alles aufbewahrt: die Krawatte in Pastelltönen, die Eintrittskarten, die Fotos und den Trauerflor. In einem dicken Album hat er alles eingeheftet. Auch die vielen Briefe, die er bekommen hat, oft mit unvollständigen Adressen. "An Prof. Shaul Ladany, Olympiateilnehmer, München 1972, Israel", liest er vor und lacht. "Damals war ich noch gar nicht Professor", sagt er. Aber promoviert war er schon und mit 36 Jahren der älteste Sportler der israelischen Olympiadelegation 1972.
Terrorangriff im Olympischen Dorf
Zum zweiten Mal nahm er damals als Geher an Olympischen Spielen teil. Heute, vierzig Jahre später, ist für den inzwischen 76-jährigen Wirtschaftsingenieur noch alles so präsent, als wäre es gestern gewesen. Am 3. September 1972 fand sein Wettkampf statt, und bis zum 4. September war seine Welt noch in Ordnung. Zusammen mit der gesamten israelischen Delegation besuchte er am Abend ein Musical in der Innenstadt von München. Doch in den frühen Morgenstunden des 5. September wurde er von einem Freund geweckt mit der Nachricht, dass arabische Terroristen elf israelische Sportler aus den beiden Nachbarwohnungen im Olympischen Dorf als Geiseln genommen hatten.
"Ich schlüpfte in meine Turnschuhe und ging ohne nachzudenken zur Tür unseres Appartements und sah hinaus", erzählt er. Vor dem Nachbarappartement sah er vier Polizisten, unter ihnen eine Frau. Sie unterhielten sich mit einem dunkelhäutigen Mann, der einen Hut trug. "Ich stand da, hörte zu und erkannte gar nicht, wie gefährlich das war. Die Polizistin bat den Mann, das Rote Kreuz zu den Geiseln zu lassen. Sie sagte zu ihm: Sie sollten human sein. Er antwortete: Die Juden sind auch nicht human. Der Mann bemerkte mich nicht, und so zog ich mich zurück und schloss die Tür."
Dem Tod entkommen
Ladany, der als Kind im Konzentrationslager Bergen-Belsen war und den Holocaust nur durch eine glückliche Fügung überlebte, erinnert sich an alles mit einer beeindruckenden Klarheit. Das Appartement, in dem er wohnte, war unerklärlicherweise von den Terroristen verschont geblieben. Sie hatten die Sportler und deren Trainer in den beiden Nachbarwohnungen als Geiseln genommen und sich mit ihnen verschanzt. Zwei Geiseln, die sich gewehrt hatten, wurden gleich zu Beginn des Überfalls erschossen. Ladany und seine Mitbewohner dagegen konnten über den Hintereingang entkommen und sich in Sicherheit bringen.
Auch Shlomit Nir-Toor hat nichts vergessen. Als junge Schwimmerin nahm sie an den Olympischen Spielen von München teil, 19 Jahre alt war sie damals und schwamm 100 und 200 Meter Brust. "Ich kann nicht behaupten, dass ich ein außerordentliches Ergebnis erzielt habe, aber ich war stolz, mein Land vertreten zu dürfen. Das war eine große Ehre", sagt sie rückblickend. Zu Beginn der Spiele, als die kleine israelische Delegation mit der blau-weißen Fahne vor 60.000 Zuschauern in das Olympiastadion einmarschiert war, sei sie aufgeregt und begeistert gewesen. Doch schon bald nach ihrem Wettkampf wollte die junge Sportlerin zurück nach Israel, zu ihrem Verlobten, den sie kurz nach den Spielen heiraten wollte. Der Delegationsleiter bat sie, noch ein bisschen zu warten, um dann zusammen mit einem verletzten Sportler die Heimreise anzutreten. Und so war sie an dem schicksalhaften Tag, als die israelische Delegation überfallen wurde, noch im Olympischen Dorf.
Von dem Überfall der palästinensischen Terroristen bekam Shlomit Nir-Toor gleichwohl nichts mit, da sie in einem anderen Gebäude, im Wohnheim der Frauen, untergebracht war. Am nächsten Tag aber wurde sie zusammen mit den anderen Überlebenden Augenzeugin, als die Geiseln zu zwei wartenden Hubschraubern gebracht wurden.
Das letzte Bild: Gefesselte Geiseln
"Ich erinnere mich noch gut an das letzte Mal, als wir unsere Freunde sahen", sagt sie, und ihr Blick geht in die Ferne. Die israelischen Sportler und ihre Betreuer waren von den deutschen Behörden in den neunten Stock eines Hauses gebracht worden. Aus dem Fenster konnten sie die beiden Hubschrauber sehen, die auf dem Rasen im Olympischen Dorf gelandet waren. Sie sollten die Terroristen mit ihren Geiseln zum Flughafen von Fürstenfeldbruck bringen. Von dort sollten sie nach Kairo ausgeflogen werden. "Wir sahen aus dem Fenster des 9. Stocks, als zwei Busse ankamen. Aus dem ersten Bus stiegen vier Sportler, mit gefesselten Händen, aneinander gebunden und mit verbundenen Augen. Sie gingen zum ersten Hubschrauber. Dann stiegen aus dem zweiten Bus weitere fünf Geiseln und stiegen in den zweiten Hubschrauber. Das war das letzte Bild, das wir sahen. Obwohl wir im 9. Stock waren, konnten wir sie gut erkennen."
Einige Stunden später erhielt die israelische Delegation die traurige Nachricht, dass alle neun Geiseln und ein deutscher Polizist bei der gescheiterten Befreiungsaktion am kleinen Flughafen von Fürstenfeldbruck ums Leben gekommen waren. Damit waren insgesamt elf Israelis dem Attentat der palästinensischen Terrorgruppe, die sich "Schwarzer September" nannte, zum Opfer gefallen.
"The games must go on"
Shaul Ladany und Shlomit Nir-Toor waren dem Anschlag entkommen. Sie reisten zwei Tage später, nach einer kurzen Trauerfeier im Olympischen Dorf, nach Israel zurück, wo sie von ihren Angehörigen und Freunden und vom ganzen Land erwartet wurden. Die junge Schwimmerin stand weinend auf dem Flugfeld, als die Särge der Ermordeten aus dem Flugzeug getragen wurden. "Ich erinnere mich gut daran, wie wir die Gangway hinab stiegen. Die Särge waren mit uns im Flugzeug gekommen und standen nun auf dem Flugfeld. Wir trafen dort die Familien der Getöteten und das war sehr, sehr schwer."
In München wurden die Spiele unterdessen fortgesetzt. "The games must go on", hatte der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, Avery Brundage, verkündet. Shaul Ladany war schon damals überzeugt, dass das die richtige Entscheidung war. Es sei nicht angebracht gewesen, die Spiele, wie von der israelischen Regierung unter Ministerpräsidentin Golda Meir verlangt, abzubrechen und all jene Athleten zu bestrafen, die jahrelang trainiert hatten, die Geld und Zeit geopfert hatten, und nun zeigen wollten, wie gut sie waren.
"Warum sollten wir sie bestrafen? Und warum sollten wir die Zuschauer bestrafen? Meine Meinung war damals, dass die Spiele weitergehen sollten. Ich habe meine Meinung bis heute nicht geändert", sagt Ladany, der auch im Alter von 76 Jahren noch regelmäßig trainiert und sogar noch an Geh-Wettkämpfen teilnimmt. Allerdings, so seine Überzeugung, hätte ein israelischer Vertreter in München bleiben sollen, um die Erinnerung an die ermordeten Sportler während der Spiele aufrecht zu erhalten: "Ein Vertreter unserer Delegation hätte bei der Abschlusszeremonie die israelische Fahne mit dem schwarzen Trauerflor ins Stadion tragen sollen."
Gedenken
Seit dem Attentat vor 40 Jahren nehmen Ladany und Nir-Toor regelmäßig an den Gedenkfeiern für die Ermordeten und an den Treffen der Überlebenden teil. Shlomit Nir-Toor, eine resolute und lebenslustige Frau, die heute im israelischen Sportministerium arbeitet, setzte sich für eine offizielle Gedenkminute bei den Olympischen Spielen in London ein. Die Spieler seien bei den Olympischen Spielen ermordet worden. Daher sei es richtig gewesen, ihrer bei der Eröffnungsfeier zu gedenken, sagt sie. Doch weder sie noch die beiden Witwen Ankie Spitzer und Ilana Romano konnten das Internationale Olympische Komitee davon überzeugen, den Opfern des Anschlags ein kurzes würdiges Andenken zu widmen.
Es gab zwar Trauerfeiern und Gedenkveranstaltungen am Rande der Spiele und im Olympischen Dorf von London, die geforderte offizielle Minute während der Eröffnungszeremonie jedoch wurde den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer verweigert. "Unsere Männer kamen aus dem falschen Land und gehörten der falschen Religion an", sagten die beiden Witwen verbittert. Auch Nir-Toor und Ladany sind enttäuscht. Aber sie sind nicht bitter. Shlomit Nir-Toor weist stattdessen mit Dankbarkeit darauf hin, dass die Stadt München ihre Anregung aufgenommen und auf dem Gelände des Olympiaparks ein beeindruckendes und unübersehbares Mahnmal für die ermordeten Sportler errichtet hat.