"Ein sehr gefährlicher Zwischenfall"
25. November 2015 DW: Herr Kühn, das Nato-Mitglied Türkei schießt einen russischen Kampfjet ab. Wie gefährlich ist dieser Vorfall politisch-diplomatisch?
Ulrich Kühn: Das ist schon ein sehr besonderer und auch ein sehr gefährlicher Zwischenfall. Denn das ist das erste Mal seit 1952, dass ein NATO-Mitglied ein russisches oder damals noch sowjetisches Kampfflugzeug abschießt.
Vor dem Hintergrund der extrem hohen Spannungen zwischen der NATO und Russland über die Ukraine und dem Umstand, dass beide Seiten nicht miteinander sprechen, zumindest nicht über offizielle Nato-Kanäle, dann ist das eine deutliche Verschärfung der Lage. Und ich kann wirklich nur betonen, dass wir uns jetzt unter Umständen am Beginn einer sich noch weiter verstärkenden negativen Spirale befinden.
Nach türkischer Lesart wurde die Besatzung des russischen Kampfjets mehrfach auf die Luftraum-Verletzung hingewiesen. Lässt sich das bestätigen?
Die Türken könnten natürlich die entsprechenden Funksprüche öffentlich machen. Die NATO-Partner in der Region und vor allem die USA haben bestätigt, dass sie diese Funksprüche auch so verstanden hätten. Es ist jetzt wahrscheinlich immer noch ein bißchen zu früh, um wirklich konkret nachvollziehen zu können, was passiert ist.
Aber so wie es aussieht - auch dazu sickern ja inzwischen erste Meldungen aus den USA oder aus NATO-Kreisen durch -, war dieses russische Militärflugzeug wahrscheinlich kürzer als 30 Sekunden über türkischem Gebiet, aber es war über türkischem Gebiet. Das heißt, man hat es wahrscheinlich kurz vorher gewarnt, während der 30 Sekunden und kurz danach. Sekunden später haben dann die zwei türkischen F16 das russische Kampfflugzeug abgeschossen.
Was bedeutet die Eskalation zwischen einem Nato-Land und Russland hinsichtlich der Bemühungen des französischen Präsidenten Hollande, der gerade dabei ist, nach den Anschlägen von Paris eine Anti-IS-Koalition zu schmieden?
Das ist natürlich ein herber Rückschlag. Zunächst einmal verschlechtert es noch einmal die sowieso schon schlechten Beziehungen zwischen der NATO und Russland. Dann bringt es aber auch zwei Länder auseinander, die eigentlich in der Vergangenheit einiges gemeinsam hatten. Gerade die beiden Präsidenten Erdogan und Putin pflegen einen sehr ähnlichen autokratischen Führungsstil. Man hat enge wirtschaftliche Interessen. Aber auf Syrien bezogen haben die Türkei und Russland eben doch sehr divergierende Interessen. Die Russen wollen mit Assad weiterhin ein Land im Nahen Osten haben, in dem sie ein starkes Mitspracherecht haben.
Die Türken wollen genau das Gegenteil. Sie wollen Assad weg haben und ihre regionale Macht ausbauen. Und für die Pläne von Präsident Hollande ist das ein absoluter Rückschlag, denn die Langzeitidee, eine gemeinsame Koalition zu bilden aus NATO-Staaten, plus eventuell Russland, plus Staaten aus der Region, wie die Türkei, Saudi-Arabien, Iran, Jordanien oder die Golfstaaten, diese Idee ist jetzt erst einmal in weite Ferne gerückt. Das heißt, wir haben keine wirkliche Strategie mehr für die nächsten Wochen und es ist fraglich, wie es in diesem Chaos überhaupt weitergehen soll.
Dennoch will Moskau offensichtlich trotz des Abschusses ein gemeinsames Vorgehen gegen den IS inklusive der Türkei. Von einem gemeinsamen Generalstab mit den USA, Frankreich und anderen ist die Rede. Das klingt aus russischer Sicht, als sei nichts geschehen.
Ja, selbstverständlich wollen die Russen das, weil man natürlich wieder im Konzert der großen Mächte mitspielen will. Und vor allem will Moskau die Aufmerksamkeit des Westens weg von der Ukraine lenken. Eine mögliche Kooperation des Westens mit Russland in Syrien hätte den Effekt, dass das Thema Ukraine ein bisschen hinten runter fällt. Russland will wieder business as usual, was auch immer das im Zusammenhang mit dem Krieg in Syrien letztlich heißen soll.
Man muss es einfach so sehen: Auch in der NATO gibt es divergierende Interessen. Wir haben die Franzosen, die natürlich berechtigterweise nach den Anschlägen von Paris sagen: "Jetzt brauchen wir eine große Koatlion, am besten eine, die sich orientiert an dem Format der Wiener Syrien-Gespräche." Das ist meiner Meinung nach sehr sinnvoll, es ist nur die Frage, ob es wirklich machbar ist. Denn gerade die USA, denke ich, werden schon zu verhindern wissen, dass die Russen als ernsthaft gleichberechtigter, vielleicht sogar militärischer Partner mit am Tisch sitzen.
Wer profitiert von diesem Vorfall politisch?
Ich denke, die wirklichen Profiteure werden gestern Abend in Rakka das Ganze mit Freudenschüssen begrüßt haben - und das ist der IS. Er weiß natürlich, dass jetzt der Westen, wie auch die beteiligten Länder im Nahen Osten von einer gemeinsamen Koalition noch weiter entfernt sind, als sie ohnehin schon vorher waren. Eigentlich gibt es nur Verlierer: Die USA, Russland, die Türkei, Frankreich.
Der französische Präsident Hollande ist morgen in Moskau. Was wäre ein denkbares Resultat mit Blick auf ein koordiniertes Vorgehen gegen den sogenannten "Islamischen Staat"?
Man wird sich morgen in Moskau noch einmal des gegenseitigen Beistands versichern. Hollande wird wahrscheinlich auch noch einmal kurz auf den Zwischenfall in der Türkei zu sprechen kommen und sagen, dass so etwas sehr bedauerlich ist und dass man da besser kommunizieren müsse in der Zukunft, damit so etwas verhindert wird. Nur denke ich, dass Frankreich nicht das politische Gewicht hat, auf westlicher Seite jetzt eine Koalition aufzustellen, die Russland mit einbindet und damit gleichzeitig die Türkei ein wenig zurückdrängt in ihren regionalen Ambitionen.
So etwas müsste abgestimmt unter mehreren Europäischen Staaten passieren. Dazu müsste sich dann beispielsweise auch Deutschland äußern. Das ist bisher nicht absehbar. Ich sehe hier keine europäische Strategie. Oder es müsste eben eine Strategie sein, die ganz eng mit den USA abgestimmt ist. Und die werden vor dem Ukranine-Hintergrund einen Teufel tun, Russland jetzt wieder komplett auf das internationale Parkett zu heben. Ich kann eine Militärallianz mit den Russen jetzt nicht sehen.
Dr. Ulrich Kühn ist Nato-Experte am Institut für Friedensforschung und Sicherheit in Hamburg.
Das Interview führte Volker Wagener.