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Ein Tagebuch des Hungers aus Leningrad

Marc von Lüpke-Schwarz30. April 2013

Es war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit: 900 Tage schottete die Wehrmacht Leningrad von der Außenwelt ab. Rund eine Million Menschen starben. Das Tagebuch eines Mädchens schildert den Alptraum.

Wasserstelle Leningrad Copyright: imago/ITAR-TASS Leningrad. Winter of 1941-1942
Bild: imago/ITAR-TASS

Als die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfällt, beschleicht die 16-jährige Lena Muchina eine Ahnung. In ihr Tagebuch notiert sie: "Das wird ein wilder, erbitterter Krieg werden." Mit ihren Worten soll die junge Schülerin Recht behalten. Und doch kann sie nicht ahnen, welche schrecklichen Pläne die deutsche Führung für ihre Heimatstadt Leningrad hegt.

Nach ihrem Vormarsch auf die Stadt umstellen die Wehrmachtruppen die Stadt. Am 8. September 1941 schließen sie ihren Blockadering um die Stadt. Adolf Hitler hat Leningrad ein grauenvolles Schicksal zugedacht: Er will die Stadt nicht erobern, sondern vernichten. Seinen Generälen befiehlt er, sie von der Außenwelt zu isolieren – kein Strom, kein Wasser, keine Nahrung. An einem Überleben der Menschen in der Stadt bestünde "kein Interesse", so Hitlers zynische Worte. Lena Muchina, das Mädchen, das so fleißig Tagebuch schreibt, ist ein von über drei Millionen Menschen, die in Leningrad eingeschlossen sind.

Ein Zufallsfund

Bis 2011 hatte Lena Muchinas Tagebuch in einem Archiv geschlummert, dann wurde es in Russland veröffentlicht. Nun erscheint es in deutscher Übersetzung, ergänzt mit Erläuterungen des Historiker Gero Fedtke. Lenas Tagebuch ist nicht das einzige Dokument, das aus persönlicher Sicht den Alltag in der hungernden Stadt beschreibt. Berühmtheit hatten vor allem die Aufzeichnungen von Tanja Sawitschewa erlangt, einer zwölfjährigen Leningraderin, die ebenfalls während der Blockade durch die Deutschen Tagebuch geführt hatte. In den Nürnberger Prozessen ab 1945 bildete es ein Beweismittel gegen die Nationalsozialisten. Denn die Leningrader Blockade galt als Beleg für die von der Wehrmacht verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch Tanja Sawitschewas Tagebuch ist nie gedruckt worden und blieb so einer großen Leserschaft verschlossen. Diese Lücke schließt nun Lenas Tagebuch, das erschütternde Einblicke in eines der größten deutschen Kriegsverbrechen gibt.

Als der Krieg immer näher kommt

Lena Muchinas Eintragungen beginnen einen Monat vor dem deutschen Überfall im Juni 1941. Zu diesem Zeitpunkt ist es das ganz normale Tagebuch einer jungen Mädchens: die erste große Liebe, scheinbar unlösbare Schulaufgaben und die Geldsorgen ihrer Tante, bei der sie aufwächst. Sie lebt mit ihrer Tante und deren Freundin in einer Kommunalka, einer für die Sowjetunion so typischen Gemeinschaftswohnung: zu dritt in einem Zimmer, Küche und Toilette teilen sie sich mit den Mitbewohnern.

Lena MuchinaBild: Graf Verlag

Am 22. Juni 1941 sollten sich ihr und das Leben von Millionen Bürgern der Sowjetunion radikal ändern. Im Tagebuch beschreibt sie, wie der Krieg Einzug in ihr Leben hält. Gasschutzräume werden eingerichtet, die Männer heben Gräben aus, und in der Stadt werden Flakgeschütze aufgestellt. Doch Lena macht sich keine Illusionen: "Um die Wahrheit zu sagen, weder wir noch unsere Wohnung sind für einen Angriff gerüstet." Die Gefahr rückt immer näher, zunächst aus der Luft. Lena verzeichnet in ihrem Tagebuch im Monat Juli: "In den letzten Tagen gab es elf Mal Fliegeralarm … Die Stadt verwandelt sich in ein Kriegslager."

Mit der vorrückenden Front, tritt ein weiterer Feind in das Lenas Leben – der Hunger. "Wir bekommen jetzt nur noch ein Kilogramm Brot am Tag", notiert sie Anfang September 1941. Leningrad liegt unter Feuer, immer öfter müssen die Menschen in Luftschutzkellern Unterschlupf suchen. Gegenüber ihren Feinden, den deutschen "Faschisten", empfinden die Leningrader Hass, Lena nennt sie "Bestien".

Unter Beschuss

Obwohl die Deutschen gegen Leningrad auf den Hunger als Waffe setzen, wird die Stadt auch bombardiert. Lena Muchina arbeitet als Sanitäterin und hat damit großes Glück: Sie erhält die höchste Lebensmittelration von zunächst 400 Gramm Brot pro Tag. Lenas Eintragungen kreisen um das eine Thema: "Ich habe schrecklichen Hunger, fühle eine furchtbare Leere im Magen." Die Lebensmittelrationen werden immer kleiner: Im November 1941 bekommt ein Arbeiter nur noch 250 Gramm Brot pro Tag. Zu allem Überfluss ist der Winter 1941/42 ist ungeheuer kalt mit Temperaturen bis zu 40 Grad unter Null.

Leningrad 1942: zwei junge Frauen im KohlfeldBild: imago/United Archives

Trotz aller Versuche der Deutschen, die Bevölkerung zu brechen, zeigen die Leningraden einen außerordentlichen Überlebenswillen. Hunger und die Kälte sind die größten Feinde, die Menschen sterben reihenweise. Zunächst produzieren die Fabriken noch und die Geschäfte sind noch geöffnet, verkaufen die Vorräte und das Wenige, das über den einzigen Zugang zur Stadt kommt: den zugefrorenen Ladogasee. Doch die Lebensmittel, die über diese "Straße des Lebens", herangeschafft werden können, reichen bei weitem nicht aus. Die Menschen essen Katzen, Hunde, Ratten, sogar den Kleister aus Tapeten – und mancher aus Verzweiflung auch andere Menschen.

Der Hunger fordert auch in Lenas Familie seinen Tribut, ihre Tante, die für sie wie eine Mutter ist, und deren Freundin sterben. "Gestern Morgen ist Mama gestorben. Ich bin nun allein", notiert Lena im Februar 1942 in ihr Tagebuch. Erst im Juni 1942 findet ihr Martyrium ein Ende, sie wird über den Ladogasee aus der Stadt evakuiert. Das Kriegsende erlebt sie im damaligen Gorkij, das heute wieder Nischnij Nowgorod heißt. Dort wohnen einige ihrer Verwandten. Nach Kriegsende kehr Lena im Herbst 1945 nach Leningrad zurück, doch Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot zwingen sie bald wieder zu einem Ortswechsel. Sie geht nach Moskau, wo sie am 5. August 1991 im Alter von 66 Jahren stirbt – in einer Zeit, in der die Sowjetunion dabei ist, sich aufzulösen.

Ein bewegendes Zeugnis

Leningrads Blockade hingegen dauert bis zum 27. Januar 1944 dauern. – rund 900 schlimme Tage für die Bevölkerung der Stadt. An diesem Tag durchbricht die Sowjetarmee den deutschen Blockadering. Der gezielte Massenmord durch Aushungern ist beispiellos. Forscher schätzen die Zahl der Opfer aus der Zivilbevölkerung auf über eine Million Menschen. "Lenas Tagebuch" ist ein eindrucksvolles Zeugnis dieser menschlichen Katastrophe, das einen ebenso bewegenden wie schockierenden Einblick in den Alltag einer verhungernden Stadt gibt.

Bild: Graf Verlag

Lena Muchina: Lenas Tagebuch. Leningrad 1941-1942, Graf Verlag, München 2013, 384 Seiten, 18,- Euro (ISBN 978-3-86220-36-8)

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