Ein Theatermacher, eine Oper und der Holocaust in Rumänien
20. Mai 2025
Die Kinder drängen sich an ihre Mutter, doch Josef Mengele ist erbarmungslos. "Sie hier. Du bist dort", singt er und zeigt auf unterschiedliche Seiten der Bahngleise. Ein Soldat mit Gewehr unter dem Arm entreißt der Mutter ihre Kinder. Es sind die Erinnerungen einer Holocaust-Überlebenden, die auf der Bühne der Nationaloper in der rumänischen Hauptstadt Bukarest gezeigt werden. Die Szene über den berüchtigten Lagerarzt von Auschwitz ist Teil der Oper "Der Eichmann-Prozess", der weltweit ersten Oper über den Holocaust, die Vernichtung der europäischen Juden durch Nazideutschland.
Es ist eine Inszenierung über einen der bekanntesten Gerichtsprozesse der Nachkriegsgeschichte - den Prozess gegen Adolf Eichmann, der 1961 in Israel für seine Mitschuld am Mord an sechs Millionen Juden zum Tode verurteilt wurde. Durch den Prozess wurden das Ausmaß und die Grausamkeit des Genozids erstmals einer breiten Öffentlichkeit bewusst.
Die Oper ist Teil eines Bildungsprojekts der rumänischen Laude-Reut-Stiftung und geht auf eine Idee von Tova Ben Nun-Cherbis zurück. Komponiert wurde sie von dem israelische Musiker und Komponisten Gil Shohat. Das Libretto basiert auf einem Theaterstück des israelischen Dramatikers Motti Lerner. Das Stück zeigt mehr als den Prozess. Im Gerichtssaal auf der Bühne lassen die Zeugen Erinnerungen aus den Lagern auferstehen. Familien werden entzweit, Frauen gequält, Kinder erschossen.
Eine Oper über den Holocaust?
Kann man das, darf man das - eine Oper inszenieren über den Holocaust? Diese Fragen schießen auch Erwin Simsensohn durch den Kopf, als ihn Monate zuvor ein Telefonanruf mit der Frage erreicht, ob er die Regie für das Stück übernehmen würde. "Es hat sich… seltsam angehört - ein Stück über den Holocaust, mit Musik?", erzählt er ein paar Tage nach der Premiere im Jüdischen Community Center in Bukarest. Simsensohn - rotes Haar, roter Bart - grüßt beim Hineingehen links und rechts, er ist bekannt in der jüdischen Gemeinschaft Rumäniens, hat das Community Center vor einigen Jahren selbst geleitet.
Doch nach den ersten Gesprächen mit dem Intendanten der Bukarester Oper, Daniel Jinga, schwanden seine Vorbehalte, erzählt Simsensohn. Als er dann zum ersten Mal die eigens für die Oper komponierten Stücke hörte, waren die Zweifel wie weggeblasen. "Musik muss nicht unbedingt Unterhaltung bedeuten. Es ist nicht unbedingt profan, ein wichtiges Thema so zu inszenieren", sagt er.
Vergessene Schuld
Der 45-Jährige ist Herausforderungen gewohnt. Simsensohn lebt heute zwischen Bukarest, wo seine Frau und Kinder wohnen, und Konstanza am Schwarzen Meer, wo er als Intendant das Staatliche Theater leitet. Im Sommer organisiert er ein neunwöchiges Kulturfestival in der Stadt, nebenbei engagiert er sich ehrenamtlich für jüdische Organisationen. Zeit bleibt da nur für wenige Herzensprojekte - wie die Oper über den Holocaust.
Die, sagt er, sei ihm ein persönliches Anliegen gewesen. Denn obwohl Rumänien eine besondere Rolle im Holocaust gespielt hat, scheint das in seiner Heimat lange niemand hören zu wollen.
Unter Diktator Ion Antonescu wurde Rumänien im Zweiten Weltkrieg zu einem der engsten Verbündeten Nazi-Deutschlands. Das rumänische Regime schränkte die Freiheiten von Juden immer weiter ein und eskalierte die Gewalt. Juden wurden enteignet und gedemütigt, sie wurden in Ghettos und Arbeitslager in Transnistrien deportiert, bei blutigen Pogromen gefoltert und ermordet.
Auch Erwin Simsensohns Großvater wurde in ein Arbeitslager deportiert. Er überlebte. Doch der Holocaust hat sich von da an unauslöschlich in die Familien-DNA eingebrannt. "Das trifft mich persönlich", sagt Simsensohn.
Während er nicht vergessen kann, verdrängt sein Heimatland die eigene Beteiligung lange, verharmlost und leugnet sie teils sogar. Erst 2004 erkennt Rumänien zum ersten Mal offiziell seine historische Mitschuld am Holocaust an. Damals zeigt ein Bericht einer Internationalen Kommission, dass etwa 280.000 bis 380.000 Juden in Rumänien und den rumänisch kontrollierten Gebieten durch rumänische Kräfte starben.
Gedenktag im Oktober
Auf den Bericht folgen erste vorsichtige Schritte in Richtung Erinnerungskultur. Der 9. Oktober - der Tag also, an dem 1941 die Deportation von Juden in Lager in Transnistrien begann - wird zum nationalen Gedenktag erklärt. Pläne für ein Holocaust-Museum werden entworfen (die bis heute nicht umgesetzt wurden), das Nationale Institut für die Erforschung des Holocaust in Bukarest gegründet, ein Holocaust-Denkmal gebaut.
"Für die meisten Leute geht es beim Holocaust nicht ums Erinnern, sondern darum, erst einmal überhaupt davon zu erfahren", sagt Erwin Simsensohn. Erst vor zwei Jahren wurde das Fach "Holocaust und Geschichte der Juden" in der Schule eingeführt. Eine aktuelle Studie des Instituts für die Erforschung des Holocaust zeigt: Nur ein Drittel der Rumänen weiß, dass Rumänien eine Mitschuld an der Vernichtung der europäischen Juden trägt. Diktator und Kriegsverbrecher Ion Antonescu, der maßgeblich für den Tod der rumänischen Juden verantwortlich war, wird bis heute von einem Großteil der Bevölkerung als „großer Patriot" wahrgenommen.
Theatermensch durch und durch
Simsensohn wächst in Piatra Neamt in der Westmoldau auf. Seine Eltern sind Ingenieure, lieben aber das Theater - so wie er. In der Oberschule gründet er eine eigene Theatergruppe, die schnell erfolgreich ist. Simsensohn versteht bald, dass er für die Arbeit am und im Theater nicht nur seine künstlerische, sondern auch seine analytische Seite einsetzten kann, sein Gefühl für Menschen und wie man sie leitet. Er wird nie laut, aber ist sich seiner Stimme stets bewusst.
Wie etwa beim Abschlussprojekt seines Regie-Studiums, eine Theateradaption des Buchs "Schuldig geboren", in dem es um Kinder aus Nazifamilien geht. Als er das Projekt damals seinem Kurs vorstellte, fragte eine Kommilitonin ihn, ob er das Thema Holocaust nicht inzwischen satthabe. "Sie hat gesagt: 'Es ist so, als ob jemand in deiner Familie gestorben ist und ihr die Leiche bei euch auf dem Wohnzimmertisch aufbewahrt, sie allen zeigt und euch weigert, sie zu begraben.'"
Obwohl Simsensohn ein besonnener Mensch ist, schwappt ein wenig der Wut von damals ins Jetzt, als er das erzählt. Er zieht die Luft scharf ein. "Ich habe ihr gesagt: 'Ich werde diese Menschen auf den Wohnzimmertisch legen.'" Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, knallt Simsensohn seine Handkanten auf den Tisch. "Wenn wir diese Leute begraben, vergessen wir, wer sie umgebracht hat. Das waren Männer, Frauen, Kinder. Sie sind nicht einfach gestorben. Diese Menschen wurden getötet, weil sie jüdisch waren."
Rechtsextremismus in Rumänien
Bis heute, sagt Simsensohn, sehe er es als seine Verantwortung, aber auch die von anderen Künstlern, dass sie das Thema Holocaust weiter im Gespräch halten. "Es ist wichtig, die Leute nicht nur darüber aufzuklären, was damals passiert ist, sondern auch über die Gefahren von Rechtsextremismus. Das ist leider ein äußerst aktuelles Thema", sagt er.
Bei den Parlamentswahlen 2024 holten rechtsextreme Parteien ein Drittel der Stimmen in Rumänien. Besonders stark ist die geschichtsrevisionistische Allianz für die Vereinigung der Rumänen (AUR), die sich als Erbin der faschistischen Legionärsbewegung der 1940er Jahre inszeniert. Ihr Präsidentschaftskandidat George Simion verlor die Wahl am vergangenen Sonntag nur knapp.
Etwas, sagt Simsenson, sei ins Rutschen geraten. "Heute ist der Antisemitismus stärker als noch vor ein paar Jahren. Es wird immer bedrohlicher für uns." Eigentlich war die Eichmann-Oper als einmalige Aufführung gedacht - doch aufgrund vieler positiver Rückmeldungen wird sie im Oktober nun erneut aufgeführt. Ein Erfolg, für das gesamte Opernteam und für Simsensohn. Denn gegen das Vergessen kämpfen, das weiß er, ist jetzt vielleicht so wichtig wie nie.