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Politik

"Ein tiefer Schmerz geht durch die ganze Stadt"

Elena Barysheva
12. Mai 2021

Bis weit in die Nacht dauerte die Gedenkaktion für die toten Schulkinder und Lehrer in Kasan. DW-Reporterin Elena Barysheva hat vor Ort mit Schülern, Angehörigen von Opfern und Einwohnern der Stadt gesprochen.

Russland I Trauer nach Schießerei in Schule von Kazan
Bild: Elena Barysheva/DW

Nach dem Amoklauf in Kasan

02:51

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Für den 12. Mai war in der russischen Teilrepublik Tatarstan Staatstrauer angeordnet worden. Der Unterricht an allen Schulen fiel aus. Am Morgen des 11. Mai hatte der 19-jährige Ilnas G. mit einer Schusswaffe das Gymnasium Nr. 175 in Kasan überfallen. Bei dem Amoklauf starben neun Menschen - sieben Schulkinder, eine Lehrerin und eine Mitarbeiterin der Schule. Mehr als 20 Menschen wurden verletzt, acht davon schwer.

Am Gymnasium unmittelbar nach den Schüssen

Das Gymnasium Nr. 175 liegt ein einem eigentlich ruhigen Stadtteil von Kasan. Doch nun sind die Kameras der wichtigsten Fernsehsender des Landes auf den Schauplatz gerichtet. Menschen legen Blumen nieder und gedenken der Opfer. Das Schulgebäude ist von Sicherheitskräften abgesperrt und im Hof ​​steht ein Zelt des Katastrophenschutzes. Doch durch den Gitterzaun sind die Spuren des Massakers deutlich zu sehen. Das Glas der Eingangstür ist zerbrochen, über der auf Tatarisch "Herzlich willkommen" steht. Am linken Ende des Gebäudes sind die Fenster aus ihren Rahmen gerissen.

"Es war ein schrecklicher Knall. Ich war in diesem Moment in der Küche und bin aufgesprungen", sagt eine Bewohnerin des Hauses gegenüber der Schule. Sie habe erst an eine Gasexplosion gedacht.

Das Gymnasium Nr. 175 in KasanBild: Maksim Bogodvid/Sputnik/dpa/picture alliance

"Wir dachten, es wären Knallkörper"

Gegenüber der Schule befindet sich ein Kindergarten, in den einige Schüler, die sich aus dem Schulgebäude in Sicherheit bringen konnten, gebracht wurden. Hinter der Schule befindet sich ein Spielplatz, die sogenannte Schlucht. Nach der Schießerei haben sich hier auf den Bänken viele Schulkinder versammelt, um gemeinsam die Nachrichten zu verfolgen.

Als die Schüsse fielen, war der Neuntklässler Anton (Name geändert) im dritten Stock beim Geometrieunterricht: "Wir dachten an Knallkörper, weil das Geräusch von der Straße zu kommen schien. Aber wir schlossen uns im Klassenzimmer ein. Dann gab es eine Explosion. Wir liefen in das kleine Labor, einige krochen unter die Tische. Dann versuchte der Täter zu uns vorzudringen und schrie: 'Ist da wer? Macht auf!' Doch wir schwiegen. Etwas später ließen wir die Mädchen durchs Fenster über die Feuerleiter entkommen. Schließlich brachen Sicherheitskräfte die Tür auf und wir konnten mit ihnen herausgehen." Anton ist der Lehrerin Sulfira Sufarowna sehr dankbar. „Sie dachte nicht an sich selbst, sondern daran, wie uns sie retten könnte“, sagte der Schüler.

In einem anderen Klassenraum im ersten Stock hatte der Siebtklässler Nikolaj (Name geändert) gerade Russischunterricht. Der Junge hörte drei Schüsse und ging in den Flur, um zu schauen, was passiert sei. In dem Moment befahl die Schuldirektorin per Lautsprecher-Durchsage allen, sich in den Klassenzimmern einzuschließen. "Dann gab es einen Knall und die Verbindung brach ab. Unsere Lehrerin Alina Danirowna sagte, wir sollten unter die Tische kriechen. Doch wir öffneten das Fenster und da das Gitter kein Schloss hat, konnten wir in den Hinterhof rennen. Dort gibt es eine Lücke im Zaun, durch die die ganze Klasse und zwei Mitarbeiter der Kantine entkamen."

Die Schüler riefen sofort bei ihren Eltern an. "Mama weinte und sagte, ich solle bis Ende des Jahres nicht mehr zur Schule gehen. Ich denke, niemand wird mehr dorthin gehen wollen", glaubt Anton.

Kasan ist die Hauptstadt der Republik Tatarstan

Der Schüler Slawa, der ebenfalls in jene Schlucht hinter der Schule gekommen ist, sagt, er habe sich am Morgen zum Unterricht verspätet. Den Knall und die Schüsse habe er nur von außen gehört. "Ich habe mir große Sorgen um meine Klassenkameraden gemacht und wollte helfen. Polizei und Rettungskräfte trafen nach zehn Minuten ein", erinnert sich Slawa.

Auf die Frage, ob in der Schule für den Fall einer Schießerei oder eines Terroranschlags Übungen stattfanden, nicken alle Jungen. Ihnen sei beigebracht worden, dass man sich ruhig verhalten müsse, selbst wenn Terroristen das Klassenzimmer betreten. Man sollte alle ihre Fragen klar und ohne zu zögern beantworten.

Doch der Amokläufer von Kasan stellte keine Fragen. Er eröffnete das Feuer sofort. Am schlimmsten hat es Klasse 8a getroffen. Da sind sich die Jungen einig. Sie haben die Liste der Verletzten und Toten gesehen: Viele von ihnen sind gerade aus dieser Klasse.

Menschen warten vor dem Krankenhaus auf Nachricht

Noch am Nachmittag hatte das Bildungsministerium der Russischen Föderation die Liste der Todesopfer und Verletzten, sowohl minderjährige wie auch volljährige, veröffentlicht. Der jüngste auf der Liste ist sieben Jahre alt. Die verletzten Schulkinder wurden in das Republikanische Kinderkrankenhaus gebracht, das ebenfalls von Sicherheitskräften abgesperrt wurde. Nur Eltern dürfen die Notaufnahme betreten, während weinende Freunde und Bekannte draußen warten müssen.

"Vielleicht wissen Sie etwas über Ildar (Name geändert). Er wurde erst am Kopf operiert und jetzt an den Beinen", fragen die Wartenden eine herauskommende Ärztin. "Ich darf nichts sagen, aber ich werde den Eltern ausrichten, dass sie nachgefragt haben", antwortet sie. Der 14-jährige Achtklässler wurde am Kopf getroffen und sprang aus dem Fenster. Ildar spielt im Fußballclub "Miras", gleich neben dem Gymnasium Nr. 175.  "Er ist in unserer Mannschaft. Er ist ein sehr guter Junge. Wir alle beten jetzt für ihn, dass er wieder gesund wird und wie früher weiterleben kann", sagt Olga (Name geändert).

In diesem Moment verlassen Angehörige der 15-jährigen Alina (Name geändert) das Krankenhaus. Alinas Beine und Arme sind gebrochen und sie wurde bereits operiert. "Ihr Zustand ist ernst, aber stabil. Wir warten noch auf Testergebnisse und morgen werden wir weitersehen", sagt ihre Angehörige Gulnara.

Der Kinderbeauftragten beim Präsidenten der Russischen Föderation, Anna Kusnezowa, zufolge, wurde entschieden, zwei Verletzte zur Behandlung nach Moskau zu verlegen.

Plüschtiere, Blumen, Bilder und Kerzen für die Opfer

Während Angehörige im und vor dem Krankenhaus warten, kommen immer mehr Menschen aus der ganzen Stadt zum Gymnasium zu einer spontanen Gedenkaktion für die Opfer. Die Sicherheitskräfte lassen jedoch nur Gruppen von etwa 20 bis 30 Personen durch die Absperrungen auf der Straße. Viele tragen Plüschtiere, Blumen, Bilder und Kerzen mit sich. Einige falten ihre Hände zum Gebet. Unter ihnen sind sowohl orthodoxe Christen als auch Muslime.

Spontane Gedenkstätte vor dem GymnasiumBild: Elena Baryheva/DW

Auch Galina ist mit ihrer Tochter zum Gymnasium gekommen. Beide weinen lange vor dem Gitterzaun, der vor dem Eingang des Gebäudes steht. "Wir sind nicht von dieser Schule, aber es ist so schrecklich, man zieht Kinder groß, sie gehen morgens los und kommen nicht zurück", sagt die Frau. Sie kritisiert, dass auch am Eingang zur Schule ihrer Tochter ein "Großmütterchen und ein Großpapa" sitzen würden, statt richtiger Wachen. "Es ist immer das Gleiche: Man spart an allem, letztlich am Leben unserer Kinder", betont sie.

Eine weitere Mutter und ihre Tochter, Marina und Anastasia, finden auch, dass für die Sicherheit an Schulen mehr getan werden muss. "Die Metalldetektoren stehen einfach nur herum, um ein gutes Bild abzugeben, aber in Wirklichkeit funktionieren sie gar nicht", sagen sie.

Die junge Gusel ist selbst Lehrerin an einer anderen Schule. Von der Schießerei erfuhr sie im Chat von Kollegen. "Sie haben mir ein Video geschickt, wie Kinder aus den Fenstern springen", sagt sie und hält weinend ihre Hände vors Gesicht. Sie fügt hinzu: "Ich kann das immer noch nicht glauben. Seit fünf Jahren lebe ich in Kasan und es war hier immer friedlich und ruhig. Jetzt geht ein tiefer Schmerz durch die ganze Stadt", sagt Gusel.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk