Ein Trampelpfad in die Freiheit
17. September 2008St.-Girons frühmorgens um sechs Uhr. Noch in der Dämmerung hat sich eine Gruppe älterer Herren an der "Brücke des Freiheits-Wegs" verabredet. Die Herren tragen Knickerbocker-Hosen und Gamaschen, nur eine Familie mit jungen Töchtern stößt dazu. Wortfetzen auf Französisch, Spanisch und Englisch fliegen durcheinander. Nach einem Gruß des Bürgermeisters kann die viertägige Wanderung beginnen. Quer über die Pyrenäen nach Spanien, auf den Spuren derjenigen, die Anfang der 1940er Jahre vor den Nationalsozialisten fliehen mussten. Die Gruppe windet sich beinahe eine um die andere Kurve den Trampelpfad hinauf. Die Wanderstöcke klackern.
Der Blick ins Tal ist ein Blick zurück
Paul Boué blickt zurück ins Tal, für ihn auch ein Blick zurück in jene Zeit, in der er vor der NS-Zwangsarbeit fliehen musste. "Ich hatte Freunde, die den Befehl bekamen zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu gehen", sagt Boué. Die Idee entstand, über die Pyrenäen in die Freiheit zu fliehen. Eine Idee, die rund 33.000 Menschen mit Boué teilten. Ganz gleich, ob es Franzosen, Briten, Deutsche oder Juden waren. Ein regelrechtes Netz an Fluchtrouten zog sich quer durch Frankreich. Die Wandergruppe passiert einen kleinen Weiler, vor ihnen ein majestätisch schneebedeckter Gipfel. Keith Janes läuft hier auf den Spuren seines Vaters, der im Juni 1940 von den Nazis gefangen genommen wurde, drei Wochen später aber fliehen konnte. 16 Monate versteckte er sich bei französischen Familien, bevor ihm die Flucht über die Pyrenäen südlich von Perpignan gelang.
Die Fluchthelfer waren oft einfache Leute, später dann auch die organisierten Mitglieder der französischen Resistance. Ihr gemeinsames Ziel: Menschen zu helfen, die vor dem NS-Terror fliehen mussten. Marie Helene Gournets Mutter war Fluchthelferin. "Meine Mutter, die im Krieg ihren Mann verloren hat, hat Peter Scott Janes, den Vater von Keith und einen anderen Soldaten versteckt", sagt Marie Helene Gournet.
In der Sperrzone gefangen
Die Wandergruppe hat inzwischen schon eine beachtliche Höhe erreicht. Die Vegetation ist karg, es ist einsam, eine Schnee- und Steinwüste breitet sich vor der Gruppe aus. Damals, ab 1943, war hier die Sperrzone, die nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Nationalsozialisten betreten werden durfte. Und trotz größter Vorsicht wurde fast die Hälfte der Fluchthelfer entdeckt – um dann verhaftet, in Konzentrationslager deportiert oder von der Gestapo erschossen zu werden. Und selbst wenn sie nicht entdeckt wurden – für viele geschwächte Flüchtlinge war der Weg auch so lebensgefährlich, nicht selten sogar tödlich.
Der "Chemin de la Liberté" führt über die 2.500 Meter hoch gelegenen Schneefelder des Mont Valier. Erst wer den beschwerlichen Aufstieg hinter sich hatte, konnte den steilen Abstieg auf spanisches Gebiet beginnen – vermeintlich in Sicherheit. Doch zunächst mussten die Flüchtlinge oft eine weitere Odyssee hinter sich bringen. Luisa Martinez, die Historikerin des Ortes Sorts, erinnert sich: "Auch auf spanischer Seite kontrollierten die Truppen Francos, unweit des Grenzortes Esterri. "Auf die – erneute – Festnahme folgte eine Schutzhaft durch die spanische Guardia Civil im Gefängnis Sort – letztlich kamen aber doch alle frei.
Ein Netz von Fluchtwegen
Auch die Wandergruppe ist mittlerweile am Ziel angekommen: im Grenzort Esterri. Maria Jesús Bono, Direktorin des Instituts "Memorial Democratic" ist aus Barcelona angereist, um den Teilnehmern der Wanderung zu danken. Für sie ist das Wanderprojekt eine gute Möglichkeit, an die stillen Helden der Pyrenäen-Wege zu erinnern. "Und es geht darum, diese Werte an die neue Generation weiterzugeben." Die Pyrenäenüberquerung entlang dem "Chemin der la Liberté" ist die gefährlichste – bei weitem aber nicht die einzige. Von der Atlantik- bis zur Mittelmeerküste finden solche Projekte statt, stets mit dem Ziel. Eine weitgehend unbekannte Facette europäischer Fluchtbewegungen vor dem Vergessen zu bewahren.