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KulturGlobal

Eine kleine Geschichte der Queerness

10. Juli 2025

War die Mona Lisa keine Frau, sondern saß Leonardo da Vincis Liebhaber Modell für das Gemälde? Der Künstler war schwul - denn Queersein ist beileibe kein Phänomen der Neuzeit. Ein Streifzug durch die Jahrhunderte.

Bildkombo Johannes der Täufer und Mona Lisa
Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen "Johannes dem Täufer" und der Mona Lisa ist nicht zu leugnen. Stand hier ein und dieselbe Person Modell ?Bild: public domain

Man schrieb das Jahr 1476, als der junge Leonardo da Vinci (1452-1519) ins Visier der Florentiner Sittenbehörde geriet. Jemand hatte ihn anonym beschuldigt, Unzucht mit einem 17-jährigen Prostituierten getrieben zu haben. Aus Mangel an Beweisen ließ man die Anklage fallen.

Dass Leonardo Männer liebte, sei allerdings durch zeitgenössische Quellen belegt, sagt der Literaturhistoriker Dino Heicker, Autor des Buches "Weltgeschichte der Queerness". Besonders angetan hatte es ihm sein 28 Jahre jüngerer Lehrling Gian Giacomo Caprotti, bekannt als "Salaj" (auf Deutsch: Teufelchen), mit dem er viele Jahr lang unter einem Dach lebte. 

Vor einigen Jahren meinten italienische Kunsthistoriker, den Beweis dafür gefunden zu haben, dass die weltberühmte Mona Lisa nicht Lisa del Giocondo, die Frau eines Florentiner Kaufmanns, darstellt, sondern eben jenen Caprotti. Er stand da Vinci mehrfach Modell und die Ähnlichkeit sei unverkennbar, so die Forscher. Außerdem könne man in den Augen der Mona Lisa die Buchstaben L und S (für Leonardo und Salaj) erkennen, und die Koseworte "mon salaj" (mein Salaj) ließen sich als Anagramm von "Mona Lisa" lesen.

Im Museum Louvre, wo das weltberühmte Gemälde hängt, hält man nicht viel von der Theorie. Ob sie stimmt? Dieses Geheimnis haben da Vinci und sein Gefährte mit ins Grab genommen.

Malte da Vinci seinen Geliebten Salaj als "Monna Vanna"?Bild: picture-alliance/akg-images/A. Held

Fakt ist jedoch, wie Leonardos erster Biograf Giorgio Vasari 1550 schrieb, dass der Maler an dem schönen Knaben ein "absonderliches Vergnügen fand". Absonderlich - eine Umschreibung dafür, dass da Vinci homosexuell war.

Die biblische Stadt Sodom als Sündenpfuhl

"Wenn eine Mehrheit definiert, was normal und anormal ist, und ein binäres Geschlechtermodell zur Norm erklärt, dann hat es die Minderheit, die anders empfindet, schwer", so Dino Heicker gegenüber der DW.

In seinem Buch berichtet er von zum Teil drakonischen Strafen, die homosexuelle, nichtbinäre oder Transgender-Menschen erwarteten, die sich "widernatürlichen" Praktiken hingaben. Sie wurden in Ketten gelegt, gesteinigt, kastriert oder endeten auf dem Scheiterhaufen. Legitimiert fühlte man sich durch die Bibel, der zufolge Gott die Städte Sodom und Gomorrha wegen ihrer Sündhaftigkeit auslöschte; der Begriff Sodomie wurde lange Zeit als Synonym für Homosexualität verwendet.

Diese Geschichte "lieferte die Blaupause für eine jahrhundertlange Stigmatisierung andersartiger Menschen", so Heicker. 1512 ließ der spanische Konquistador Vasco Núñez de Balboa in Amerika Indigene von seinen Hunden zerfleischen, weil sie "die entsetzliche Sünde der Sodomie" begangen hatten. 

Dino Heicker schrieb zwei Jahre lang an seinem Buch Bild: Dino Heicker

Spielarten der Liebe in der Antike

Andererseits gab es auch Gesellschaften, in denen jegliche Form der Queerness allgemein akzeptiert wurde.  So war es in der Antike unter Männern üblich, (neben der Gattin) einen Lustknaben an seiner Seite zu haben. Der römische Kaiser Hadrian war über den Tod seines geliebten Antinoos so untröstlich, dass er ihn posthum zum Gott erklären und zahlreiche Statuen und Kultstätte zu Ehren des schönes Jünglings anfertigen ließ.

Auf der Insel Kreta ließ sich der Gesetzgeber zur Geburtenkotrolle etwas ganz Besonderes einfallen, berichtet der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.): die "Knabenliebe". Ältere Männer nahmen einen Jüngling in ihr Haus, um ihn auszubilden. "Von dem jüngeren Mann wurden dann sexuelle Gefälligkeiten erwartet, was gesellschaftlich aber nicht abschätzig angesehen wurde", erklärt Dino Heicker.

Auch die Frauenliebe war damals schon bekannt. Auf der Insel Lesbos huldigte die Dichterin Sappho in ihren Versen der Schönheit des weiblichen Geschlechts. Vorbilder für die Spielarten der Liebe fand man in der Götterwelt. Allen voran in Göttervater Zeus, dem Inbegriff der Queerness schlechthin - auch wenn es diesen Begriff damals noch nicht gab. Er verwandelte sich in Frauen, Tiere und sogar eine Wolke, um sich mit dem Objekt seiner Begierde zu verlustieren.  

Wandmalerei aus Pompeji: Göttervater Zeus näherte sich der Königstochter Europa in Gestalt eines Stiers und entführte sieBild: Tristan Lafranchis/akg-images(picture-alliance

Es sprach in der Antike also nichts dagegen, als Mann mit anderen Männern oder Knaben zu schlafen, "solange man die aktive Rolle innehatte", erklärt Dino Heicker. "Der Penetrierte, also der Unterlegene, galt als verweichlicht und war gesellschaftlich unten durch." Im Römischen Reich habe man dem politischen Gegner gerne unterstellt, sexuell passiv zu sein, denn "damit konnte man auch ganz konkret an seiner Ehre kratzen".  

Die Kirche sah darin ein "Verbrechen gegen die Natur"

Mit der Ausbreitung des Christentums war Schluss mit der Nachsicht gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe. Der Bischof und Benediktinermönch, Petrus Damiani (1006-1072), einer der einflussreichsten Geistlichen des 11. Jahrhunderts, wetterte gegen die Unzucht - auch in den Klöstern; das "widernatürliche Laster verbreite sich wie ein Krebsgeschwür unter den Geistlichen und wüte wie ein blutrünstiges Tier in der Herde Christi". Sodomie, so war er überzeugt, entstehe durch teuflische Einflüsterungen.

Dino Heickers Buch ist ein Streifzug durch queere Lebensgeschichten Bild: BeBra Verlag

Bei den Samurai-Kriegern in Japanund am chinesischen Kaiserhof, war man in puncto Homosexualität wesentlich entspannter, Männerliebe war verbreitet. 1549 notierte der Jesuitenpater Francisco de Xavier: "Die buddhistischen Priester begehen ständig Verbrechen gegen die Natur und streiten es nicht einmal ab, sondern geben es freimütig zu." 

Das queere Who is Who

In späteren Jahrhunderten und in der Neuzeit gab es immer wieder berühmte queere Persönlichkeiten – auch unter gekrönten Häuptern. 

Heickers Buch gleicht einer Liste des queeren Who is Who. Ob der russische Komponist Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893), der irische Schriftsteller Oscar Wilde (1854-1900), der US-amerikanische schwarze Dramatiker James Baldwin (1924-1987) oder Eleanor Butler und Sarah Ponsonby, die sich um 1780 in ein einsames Tal in Wales zurückzogen und als Ladies von Llangollen misstrauisch beäugt wurden: Sie alle versuchten, nach ihrer Façon glücklich zu werden. 

Die Tagebücher der Anne Lister alias "Gentleman Jack"

Die englische Gutsherrin Anne Lister (1791-1840) hat ein Tagebuch hinterlassen, das 2011 in die Liste des UNESCO-Weltdokumentenerbes aufgenommen wurde. "Es sind 26 Bände, in denen sie ausführlich über lesbischen Sex und ihre Beziehung zu Frauen schreibt", erzählt Heicker. Lister hatte extra einen eigenen Geheimcode entwickelt, damit kein Unbefugter ihre Bekenntnisse lesen konnte. Erst 1930 wurde er entschlüsselt. In ihrem Dorf titulierte man sie oft als "Gentleman Jack", ließ sie aber weitgehend unbehelligt. Listers Niederschrift hat die Richtung britischer Genderstudien und Frauengeschichten maßgeblich geprägt.

Anne Lister gilt als erste moderne Lesbe Bild: Gemeinfrei

Das dritte Geschlecht

Ob die Mahus auf Tahiti, die Muxes vom Volk der Zapoteken in Mexiko, die Hijras in Indien oder die nordamerikanischen Lhamanas bei den Zuñi: Sie alle fühlen sich seit Jahrtausenden weder als Mann noch als Frau, sondern dem dritten Geschlecht zugehörig. "Da gab es eine viel größere Vielfalt, als die Verengung auf das Zwei-Geschlechter-Modell heute noch möglich erscheinen lässt", sagt Heicker. "Die Zuñi zum Beispiel gehen nicht davon aus, ein Geschlecht sei angeboren, vielmehr sahen sie es als soziale Formung an." 

We’wha vom Volk der Zuñis reiste 1885 in die USA und wurde als vermeintliche Zuñi-Prinzessin sogar vom Präsidenten empfangen; niemand ahnte, dass sie biologisch ein Mann war. Bild: Gemeinfrei

In Deutschland nennt man dieses dritte Geschlecht heute "divers". "Ich denke, queere Menschen haben sich gerade in der Bundesrepublik eine unglaubliche Menge an Freiräumen erkämpft. Da konnten frühere Generationen nur von träumen", sagt Heicker. "1994 wurde der Paragraph 175 (er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Anm. d. Red.) endlich aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, es gibt die Ehe für alle und sexuelle Diskriminierung kann angezeigt werden.  Andererseits und jetzt kommt das große Aber: Das Erreichte muss natürlich auch geschützt werden, denn es gibt ja durchaus Versuche, die Uhr zurückzudrehen."

Beim Christopher Street Day in Köln feiert die LGBTQ+-Community - und kämpft für ihre RechteBild: Jana Rodenbusch/REUTERS

In der Tat greift die Hasskriminalität gegen queere Menschen um sich. "Es kommt immer häufiger vor, dass man beschimpft oder sogar bespuckt wird," sagte Uwe Weiler, Geschäftsführer von Cologne Pride kürzlich dem Kölner Stadtanzeiger. "Die Hemmschwelle ist gesunken."

In Deutschland werden solche Übergriffe geahndet, anderswo sieht das anders aus. "Man braucht ja nur nach Russland schauen, wo Händchenhalten als Propaganda verboten wird. Und  jetzt jüngst auch in die Vereinigten Staaten unter Präsident Trump (Er hat nach seinem Amtsantritt gesagt, es gebe nur zwei Geschlechter: Mann und Frau, Anm. d. Red.)", sagt Heicker.  "Also weltweit ist das natürlich wieder ein Rückschritt. Man sollte sich nie zu sicher sein, dass die Errungenschaften, die man erkämpft hat, auf alle Zeiten bestehen bleiben."

Dino Heicker: Weltgeschichte der Queerness. BeBra Verlag, 2025

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