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"Eine Massenmobilisierung für Flüchtlinge"

Nina Niebergall22. August 2016

Als im vergangenen Jahr Hunderttausende nach Deutschland flohen, war die Hilfsbereitschaft beispiellos. Das gesamtgesellschaftliche Engagement berge großes Potential, konstatiert nun eine Studie. Doch wird es genutzt?

Berlin Ankunft der Flüchtlinge im Herbst 2015 (Foto: dpa)
Berliner heißen Flüchtlinge in ihrer Unterkunft willkommenBild: picture-alliance/dpa/G. Fischer

Fast ein Jahr ist es inzwischen her, dass am Köln-Bonner Flughafen tausende Flüchtlinge ankamen. Für die Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan ist es ihre erste Station in Deutschland. Alle zwei Tage wiederholte sich an dem "Drehkreuz" der organisierte Ausnahmezustand - der ohne die Unterstützung von 3000 ehrenamtlichen Helfern für die Stadt Köln kaum zu bewältigen gewesen wäre.

In einem Zelt auf dem Flughafengelände verteilen Freiwillige Suppen, schwarzen Tee und Kleidung an die Flüchtlinge - viele hatten ihre Heimatländer nur mit Sandalen an den Füßen und ohne Jacken verlassen. Einige Helfer kommen regelmäßig hier her, andere zum ersten Mal. Es sind Kölner Bürger, die in dem Herbst, in dem so viele Menschen Schutz in Deutschland suchen, ihren Beitrag leisten wollen. Eine Welle der Solidarität entsteht: Überall in Deutschland sammeln Menschen Kleidung, verteilen Mittagessen und bieten Sprachunterricht für die Neuankömmlinge an.

Quer durch die Gesellschaft

Eine Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität in Berlin zieht nun Bilanz. Die meisten Freiwilligen engagierten sich im vergangenen Jahr zum ersten Mal in der Flüchtlingsarbeit, ermitteln die Berliner Wissenschaftler und Autoren der Studie, Serhat Karakayali und Olaf Kleist.

Am Flughafen Köln/Bonn kommen alle zwei Tage mehr als 500 Menschen an -Freiwillige helfen bei der OrientierungBild: picture-alliance/dpa/F. Gambarini

"Die Zahl der Flüchtlingshelferinnen und Helfer hat sich extrem erhöht", beschreibt Karakayali im Interview mit der DW die Situation im vergangenen Jahr. Das Engagement sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es engagierten sich nicht mehr nur Studenten und Großstädter, erläutert der Soziologe. "Wir haben Leute aus den mittleren Altersgruppe, die erwerbstätig sind, und viele Leute in den kleineren Kommunen."

Die neuen Ehrenamtler bringen auch andere Denkmuster mit - viele sind gegen eine uneingeschränkte Öffnung der Grenzen. Sie hätten weniger liberale Vorstellungen zu Migration als länger Aktive, berichtet Karakayali. Ein Viertel der Befragten befürchte gar, ihr Engagement könne weitere Menschen erst dazu ermuntern, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. Was Solidarität gegenüber Flüchtlingen angeht, ist sich die große Mehrheit allerdings mit Bundeskanzlerin Angela Merkel einig: Deutschland kann das schaffen.

Was kommt nach der Willkommenskultur?

Serhat Karakayali untersucht am BIM die Dynamiken ehrenamtlicher FlüchtlingshilfeBild: Ute Langkafel

Das Potential des ehrenamtlichen Engagement ist enorm. Die medial viel beschworene Willkommenskultur breitet sich unter Menschen verschiedenster Hintergründe aus. "Ich glaube, so eine Massenmobilisierung für Flüchtlinge in Deutschland haben wir in den letzten 50 Jahren noch nicht gesehen", konstatiert Karakayali. Nur: Was wurde aus den vielen Freiwilligen, seitdem nicht mehr täglich tausende Menschen in Deutschland ankommen?

Nachdem im April die Zelte am Kölner Drehkreuz abgebaut waren, schickte die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker ein Schreiben an alle Helfer. Darin drückte sie ihre Dankbarkeit für deren Einsatz "auch unter denkbar ungünstigen Bedingungen" aus.

Die erste Station vieler Flüchtlinge in Deutschland: Eine Zeltstadt auf dem FlughafengeländeBild: picture-alliance/dpa/M. Hitij

Für die Helfer war die Situation am Flughafen zuweilen belastend. Viele von ihnen waren auf sich allein gestellt. Ohne konkrete Ansprechperson waren sie auf sich alleine gestellt. Die Züge, mit denen die Flüchtlinge von der österreichischen Grenze nach Köln gebracht wurden, kamen oft erst spät in der Nacht an. Der Anblick der frierenden, verängstigenden Menschen nahm viele Helfer mit. Die Freiwilligen versorgten Kinder mit Malsachen und warmen Schuhen, ihre Eltern mit Toilettenartikeln und Winterjacken. Doch viele Kinderschuhe passten nicht, in arabisch vorgetragene Anliegen werden von den Helfern oft missverstanden.

Steine im Weg

Dass sich viele Deutsche alleine oder in einer selbstorganisierten Gruppe für Flüchtlinge engagierten, berge laut Karakayali Gefahren. "Zum Beispiel, dass man sich überfordert. Dass es niemanden gibt, der einem sagen kann: Jetzt hörst du auf und ruhst dich mal aus. Oder: Überlass diese Sache jemandem, der sich besser damit auskennt." Das sorge für Frustration - ebenso wie der Behördendschungel, mit dem sich Flüchtlingshelfer auseinandersetzten müssten, meint Karakayali. In manchen Kommunen klagten Ehrenamtliche, ihnen würden Steine in den Weg gelegt. "Das sind die Faktoren, die, gerade wenn man alleine und ohne professionelle Unterstützung unterwegs ist, dazu führen, dass man so etwas lieber nicht mehr macht", prognostiziert der Soziologe.

Karakayali und sein Kollege vom BIM fordern Kommunen, Bund und Länder sowie Wohlfahrtsverbände auf, "Strukturen zur Verfügung zu stellen, in denen solche Arbeiten erleichtert werden und Beratung angeboten wird". Das funktioniere in manchen Kommunen besser, in manchen schlechter.

Auch in München helfen Freiwillige mit, die Ankunft hunderter Flüchtlinge zu organisierenBild: picture-alliance/dpa/N. Armer

Köln arbeite weiter eng mit den Flüchtlingsinitiativen zusammen, erklärt die Pressestelle der Stadt auf Anfrage der DW. Es gebe einen runden Tisch für Flüchtlingsfragen, ein Forum zur Vernetzung von Initiativen, das die Stadt mit Personal unterstütze, sowie eine erst in diesem Jahr eingerichtete Stabstelle für Flüchtlingskoordination. Viele der Helferinnen und Helfer vom Kölner "Drehkreuz" engagierten sich inzwischen in lokalen Strukturen, heißt es. "So ist aus der Drehscheibe heraus eine weitere Initiative entstanden", schlussfolgert die Stadt Köln.

Die Wissenschaftler des BIM meinen: Wenn Öffentlichkeit und Politik das gewachsene zivilgesellschaftliche Engagement fördern, können die Potentiale des "Sommer des Willkommens" genutzt werden. Dafür müsste die von vielen Deutschen mitgetragene Solidarität gegenüber Flüchtlingen institutionalisiert werden - nicht nur in Köln, sondern deutschlandweit. Alles andere "wäre eine große vertane Chance", betont Karikayali.

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