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Musik

Eine Passionsgeschichte für unsere Zeit

Rick Fulker
17. April 2017

Was haben die Schriften von Hildegard von Bingen, einer amerikanischen Frauenrechtlerin des 20. Jahrhunderts und Holocaustüberlebenden mit Bibeltexten gemeinsam? Alle fließen in eine neue Passionsgeschichte ein.

Inszenierung The Gospel According to the Other Mary von Peter Sellars
Bild: Thilo Beu

Eine Frau auf Drogenentzug schreit auf zu turbulenter und dissonanter Hintergrundmusik. Sie ist in einem Haus für obdachlose Frauen untergebracht. Die politisch aktiven Schwestern Maria und Martha organisieren diese Wohltätigkeitseinrichtung, werden aber von der Polizei schikaniert. Martha ist praktisch und fleißig. Maria ist mal depressiv, mal ekstatisch. Später stirbt ihr Bruder Lazarus. Maria klagt Jesus an: Warum sei er nicht gekommen, um ihn zu retten? Dann lässt Jesus den schon seit drei Tagen im Grab liegenden Mann auferstehen.

Zwei Marias werden zur "anderen Maria" verschmolzen

"Eine Generalprobe für Jesus' eigene Auferstehung", nennt das Peter Sellars. Der amerikanische Opern- und Schauspielregisseur ist auch für den Text des 2012 entstandenen musikdramatischen Werks "The Gospel According to the Other Mary" des amerikanischen Komponisten John Adams zuständig. Den Titel könnte man als "Evangelium nach der anderen Maria" übersetzen. In dieser "anderen" Maria werden zwei biblische Gestalten verschmolzen: Maria aus Bethanien und Maria Magdalena.

Moderne Passionsgeschichte

Ausgangspunkt für Sellars' Vision einer Geschichte, die die Jahrhunderte überbrückt, ist eine Apokryphe. Jene religiöse Schrift stammt aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. und wird  Maria Magdalena zugeschrieben. Die weiteren Texte stammen aus verschiedensten Quellen. Dazu gehört die amerikanische Autorin Louise Erdrich (*1954), die Geschichten aus der Folklore amerikanischer Ureinwohner erzählt, oder auch die radikale katholische Aktivistin Dorothy Day (1897-1980). Sellars' Passionserzählung ist von Armen, Kranken, Misshandelten und Unterdrückten aus allen Jahrhunderten bevölkert.

In seinen Inszenierungen gibt Peter Sellars klassischen Werken eine moderne PrägungBild: picture-alliance/Eventpress Hoensch

Nach der Premiere vor fünf Jahren in Los Angeles wurde das Werk, das zwischen Oper und Oratorium anzusiedeln ist, einerseits als "Passion des 21. Jahrhunderts" in der Tradition von Johann Sebastian Bach beschrieben. Andererseits klagten Kritiker über die unscharfen Charakterprofile der Protagonisten, über die Verwischung von Dialog und nachdenklichem Kommentar in Sellars' Textcollage und über die Länge des fast dreistündigen Werks.

Betörend und verstörend zugleich

Nun wurde es in der deutschen szenischen Erstaufführung vorgestellt. Die Koproduktion mit der English National Opera in London hatte Ende März an der Bonner Oper Premiere - und wird noch bis Mitte Mai aufgeführt. Peter Sellars führt als Ideengeber und Texter selbst Regie. Das kommt nur selten vor. Ebenso selten erlebt man - selbst bei zeitgenössischen Werken - dass an einem Stück weitergeschraubt wird.

Schon John Adams erste Zusammenarbeit mit Sellars, die Oper "Nixon in China" (1987), war ein großer ErfolgBild: picture-alliance/picturedesk.com/R. Newald

Jetzt, in der szenischen Fassung, begreift man, warum die Charaktere unscharfe Profile haben müssen. Der Text wird abwechselnd auf die Sänger verteilt. Ebenso stellen die vier Tänzer unterschiedliche Figuren dar: Mal sind es Polizisten, mal zwei Männer, die zusammen ans Kreuz genagelt werden. Erzählt wird die Geschichte von drei Countertenören in leuchtenden Klangfarben. Die Verschmelzung der drei hohen Männerstimmen wirkt betörend und verstörend zugleich.

Diese Passion berührt jeden

Dadurch dass die Charaktere ineinander übergehen, wird das Ganze auf eine universelle Ebene gehoben. Das macht auch die Regie deutlich. Es sind Prototypen, die die Passions- und Auferstehungsgeschichte so vermitteln, dass sie jeden etwas angeht.

Die Darsteller - Solisten, Chor, Tänzer und Statisten - tauschen immer wieder ihre RollenBild: Thilo Beu

Wer John Adams als minimalistischen Komponisten kennt, wird hier überrascht. "Maximalistisch" nannte ein Musikkritiker die Partitur, deren Klänge von dick und satt bis kaum vernehmbar reichen. Mal jazzig, oft dissonant, häufig von treibenden Schlagzeugrhythmen vorangetrieben - und immer wieder sticht der stechende Klang eines Hackbretts aus dem Orchesterteppich hervor und verleiht dem Werk eine exotische Note.

"Musik hat die präziseste Wirkung auf den Geist"

In den sechziger Jahren studierte Adams klassische Avantgarde-Musik an der Harvard University, während die Jugendbewegung tobte und Rockmusik seine Generation befeuerte. Heute verbindet der 70-Jährige, der in Kalifornien lebt, beide musikalische Richtungen und nennt seinen Stil postminimalistisch. "Von allen Künsten hat die Musik die präziseste Wirkung auf den Geist", sagt er. Tatsächlich begreift man Passion und Auferstehung in der Zusammenarbeit von Adams und Sellars geistig, vor allem aber seelisch. Die beinahe drei Stunden vergehen im Flug. Und danach man hat das Bedürfnis, die Aufführung noch einmal zu erleben.

Wie endet die Geschichte? Jesus' Grab ist leer. Die "andere" Maria sieht einen Gärtner. Es spricht sie an. Sie erkennt, dass er es ist. Die Musik entschwebt in ätherischen Klängen.

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