Eine Sicherheitsstrategie für Deutschland
18. März 2022Von einer "Zeitenwende" hat Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag gesprochen, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock von einer "geopolitische Zäsur". Der russische Angriff auf die Ukraine, die Bombardierung auch von Wohnhäusern und Kliniken, hat die europäische Friedensordnung von einem Tag auf den anderen zerstört.
Deutschland ist von diesem Bruch besonders betroffen, auch mental. Seine Politik, auch seine Gesellschaft, hatten sich das Denken in militärischen, geostrategischen Kategorien weitgehend abgewöhnt. "Deutschland fühlte sich zuhause" in einer "Zeit des Idealismus", beschreibt Nathalie Tocci, eine Beraterin der früheren EU-Außenvertreterin Federica Mogherini, den Zustand, in dem es sich Deutsche und andere Europäer gemütlich gemacht hatten – bis Wladimir Putin mit seinem Krieg sie aufschreckte.
Die Bundesregierung hatte bereits in ihrem Koalitionsvertrag im Herbst eine "Nationale Sicherheitsstrategie" angekündigt, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Krieg drückt jetzt aufs Tempo.
Zauberwort Wehrhaftigkeit
Gerade von einer Außenministerin der Grünen mit deren pazifistischer Parteitradition kamen da ungewohnte Worte, wie sie selbst zugab. Von "Wehrhaftigkeit" sprach sie immer wieder, die Sicherheit garantiere. Der Ukraine-Krieg zeige "einmal mehr, dass die Sicherheit von der Bündnisfähigkeit der NATO abhängt". Deutschland sei bereit, darin mehr Verantwortung zu übernehmen.
Dazu gehören für sie deutlich höhere Verteidigungsausgaben, wie sie Scholz bereits mit der 100-Milliarden-Geldspritze für die Bundeswehr angekündigt hat. Das zeige sich aber auch in der geplanten Anschaffung von atomwaffenfähigen US-amerikanischen F-35-Kampfflugzeugen. Die nukleare Abschreckung der NATO müsse glaubhaft bleiben, das Bündnis seine Präsenz in den besonders bedrohten östlichen NATO-Staaten deutlich verstärken.
Die militärische Zusammenarbeit will Deutschland besonders innerhalb der EU fördern. Unterschiedliche nationale Traditionen stehen dem aber oft entgegen, glaubt Christoph Heusgen, der Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz. Deutschland könne bei der Rüstungszusammenarbeit mit Frankreich "nicht nur die ganz harten deutschen Kriterien" etwa in der Rüstungsexportpolitik durchsetzen, sagte Heusgen bei einer Diskussionsveranstaltung im Auswärtigen Amt im Anschluss an Baerbocks Rede. Soll heißen: bei Rüstungsexporten könnte Deutschland in Zukunft weniger zurückhaltend sein.
Zu den Diskussionsteilnehmern gehörte auch die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. Sie kann ein Lied davon singen, was es heißt, "Mentalitäten zu überwinden", auch in der Bevölkerung. "Waffen töten. Über Waffen zu sprechen ist kein erotisches Thema", sagt sie. Andererseits entwickele sich die Gesellschaft schnell weiter. So wie 83 Millionen Deutsche seit zwei Jahren meinten, Corona-Spezialisten zu sein und Schiedsrichter beim Fußball sowieso, "sind wir jetzt alle Waffenspezialisten".
Nicht nur Waffen geben Sicherheit
Sicherheit erwächst aber für Baerbock nicht nur aus Verteidigungsfähigkeit, zu der auch die Abwehr von Cyberangriffen zählt. Die Bundesregierung setzt in ihrer Strategie auf einen umfassenden Sicherheitsbegriff. Die "Unverletzlichkeit des Lebens" könne nicht nur durch Krieg bedroht sein. "Auch dort, wo die Folgen des Klimawandels, von Hunger, Armut und fehlendem Wohlstand der Menschen Leid erzwingen, gibt es keine Grundlage für sicheres Leben in Freiheit." Die neue Sicherheitsstrategie soll deswegen verschiedene Ministerien sowie Fachleute und die Zivilgesellschaft vernetzen.
"Die Klimakrise ist die sicherheitspolitische Frage unserer Zeit", betonte Baerbock. Eine Abkehr von fossilen Energieträgern, zumal wenn sie aus Russland kämen, sei daher auch ein entscheidender Beitrag zu mehr Sicherheit. Sie fühlt sich damit in ihrer Haltung bestätigt, mit der sie schon vor Beginn des Krieges nicht so recht durchdringen konnte, die aber jetzt weitgehend Konsens im Bundestag ist.
Die chinesische Herausforderung
Für die Bundesregierung ist es normalerweise selbstverständlich, ihre Außenpolitik europäisch einzubetten und abzustimmen. Nicht so bei der Ostsee-Erdgasleitung Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland, der deutsche Alleingang wurde in der EU sehr kritisch gesehen. Bundeskanzler Scholz ließ ein Umdenken erkennen, als er am Donnerstag in einer Rede vor der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung sagte: "Alles, was als deutscher Sonderweg wahrgenommen wird ‑ gerade im Verhältnis zu Russland ‑, schadet uns, schadet unserer Sicherheit und schadet Europa."
Eine Sicherheitsstrategie gilt nicht nur für Europa. Annalena Baerbock deutete an, dass in Zukunft China die eigentliche Herausforderung sein könnte. Christoph Heusgen erzählte aus seiner Zeit als Diplomat, dass China überall auf der Welt Länder durch Förderprojekte für sich einnehme, damit sie in der UNO-Generalversammlung für Peking stimmten. Deutschland solle bei seiner Strategie auf möglichst viele Länder zugehen, nicht nur auf den "klassischen Westen", sondern auf alle, "die sich für die internationale regelbasierte Ordnung einsetzen".
Entbehrungen für die Freiheit?
Dass eine nationale Sicherheitsstrategie nicht nur etwas für die Politik ist, darauf wies Marie-Agnes Strack-Zimmermann hin. Man müsse "die Bevölkerung mitnehmen", den Menschen in Deutschland erklären, dass vielleicht auch "Entbehrungen" auf sie zukämen. Die hohen Kraftstoffpreise lieferten einen Vorgeschmack darauf, so die FDP-Politikerin. "Es gibt keine Vollkaskoversicherung. Wir müssen uns auf eine andere Zeit einstellen."