Eine Stadt im Zeichen des QR-Codes
19. Januar 2025Das "Smartel" in Ahaus, eine 40.000-Einwohner-Stadt im nordrhein-westfälischen Münsterland: Ein Gast kommt mit seinem Rollkoffer an der Hand und scannt mit seinem Smartphone den QR-Code am Hoteleingang, um zu seinem Zimmer zu gelangen.
Im Hotel ohne Rezeption dient das Smartphone als Schlüssel und auch als Steuerung für Heizung und Beleuchtung. Drinnen gibt es nicht einmal Lichtschalter. Im Flur schnurrt der Staubsauger-Roboter über den Boden. Personal sieht man höchstens noch beim Frühstück.
"Das war einmal das 'Ratshotel Residenz', das größte im Ort", erzählt Peter Sommer, der durch die Smart City Ahaus führt. Hier wurde in den 1990er Jahren die beliebte deutsche Fernsehshow 'Traumhochzeit' gedreht. Doch irgendwann wollte der langjährige Pächter nicht mehr weitermachen - und auch sonst keiner. "Leerstand am Rande der Fußgängerzone: Das ist nicht gut!"
Der Software-Hersteller Tobit kaufte das Gebäude 2017 und modernisierte es von Grund auf: Heute sei das Smartel mit seinen 44 Zimmern fast immer ausgebucht. Es ist eines von mehr als zwei Dutzend Show-Cases, die Tobit an seinem Firmensitz Ahaus betreibt, um die Möglichkeiten seiner Vernetzungsplattform chayns zu demonstrieren. Einmal im Monat bietet Tobit eine offene Tour für alle Interessierte an. Und wenn es an einem trüben Dezember-Tag nur zwei gibt, macht nichts: Peter Sommer nimmt uns zum Rundgang mit.
Die Stadt der QR-Codes
Was einem sofort auffällt sind die runden, blau-weißen Sticker. In der Mitte ist ein QR-Code, drum herum die Aufschrift chayns. Die Sticker kleben fast überall: auf Restauranttischen und Hoteltüren, Booten und Fahrrädern, Supermarktregalen und dem Spieleschrank im Park. Sie dienen dazu, Dinge freizuschalten, auszuleihen, zu kaufen und zu buchen.
Ende des Jahres wurde Ahaus im bundesweiten Wettbewerb 'Digitale Orte 2024" von der Initiative Deutschland - Land der Ideen als smarteste Kommune im ländlichen Raum ausgezeichnet.
Die Jury würdigte besonders, dass alle Anwendungen auf einer zentralen Plattform mit einer einzigen App nach einer einmaligen Registrierung mit den Kontaktdaten und der Bankverbindung verfügbar sind. Darüber greift man sowohl auf die kommerziellen Angebote zu, als auch auf die Dienste und Informationen der Stadtverwaltung und des Stadtmarketings. Im persönlichen Nutzer-Profil sind Dokumente, Gutscheine und Tickets abgelegt.
Sieht so die Zukunft aus?
Margarete kommt aus dem Nachbarort Velen, ist Heilerziehungspflegerin und hat beruflich gar nichts mit Digitalisierung und KI zu schaffen. Sie will einfach wissen, was die Zukunft bringt. In ihrer Kleinstadt gebe es keinen Supermarkt mehr und wenn man abends essen gehen wolle, müsse man Tage im Voraus reservieren, erzählt sie.
Ahaus ist mittelgroß und muss wie viele andere Städte gegen Verödung kämpfen. Kleine Läden und Kinos verschwinden. Kneipen, Bars, Clubs, Restaurants und Cafés finden kein Personal mehr, die alten Inhaber keine Nachfolger. Wie auch immer das Problem heißt, die Antwort lautet hier: Digitalisierung.
Die unpersönliche Gastronomie
"Wo bleibt ihr, Colin, Elisana?" steht groß auf dem Display der "digitalen Dönerbude" TKWY. Die Burger und Pommes, die Colin und Elisana über chayns bestellt haben, sind fertig. Sind die beiden da, authentifizieren sie sich per App - dann fällt die Tüte einfach ins Fach. "Ein bisschen unpersönlich", findet Margarete. Sie würde das Quatschen mit dem Verkäufer vermissen. "Aber effizient", entgegnet Sommer. Das Personal sei einzig mit Kochen beschäftigt. Wie gut seine Deutschkenntnisse sind? Egal.
Die Kneipe "Offsite" am zentralen Platz liegt am späten Nachmittag noch dunkel und verlassen da. Der Tobit-Guide scannt den QR-Code am Eingang. Plötzlich kommt Leben in die Bude. Die Lichter gehen an, die Markise fährt aus, das Logo einer großen Biermarke blinkt, die Tür geht auf und auf zig Bildschirmen laufen nun Fußball und Musikvideos.
Gegen einen virtuellen Obolus lässt sich auch die eigene Playlist und der Heizstrahler einschalten. Kaum sind wir drin, schon rüttelt einer an der verschlossenen Tür und will auch rein. Aber zu früh gefreut, Sommer will lediglich demonstrieren, wie man eine Gastroeinrichtung mit einem Klick in Betrieb nimmt.
Kein Bargeld, keine Diskussionen
Auch sonst läuft es mit wenig Personaleinsatz: Der Barkeeper reicht nur das über die Theke, was der Gast im Voraus online bezahlt hat. Es entfallen die Diskussionen, was auf dem Bierdeckel vermerkt wurde und wer schon Alkohol trinken darf, denn die persönlichen Daten sind im chayns-Konto hinterlegt.
Abends geht der Kneipier nach Hause, ohne Bargeld zur Bank bringen zu müssen. Derweil gibt der Laden selbständig eine Bestellung ab, um die Vorräte aufzufüllen.
Bauernhöfe, Sportvereine und andere mehr nutzen chayns, um ihre Produkte rund um die Uhr bargeldlos zu verkaufen oder Zugang zu ihren Räumen zu gewähren. Aber der Schwerpunkt liegt auf der vom Fachkräftemangel gebeutelten Gastronomie. Fast 80 Prozent der Gastronomen arbeiten nach Tobit-Angaben mit chayns: von der Dönerbude bis zum Schlosshotel. Die Gäste machen fast alles selbst und doch sind es keine Selbstbedienungsläden.
Lokale Währung
"Wir können neue Technik ausprobieren und sie anderen Städten zugänglich machen", erzählt er. In Ahaus sei es leichter, etwas im Beta-Betrieb zu testen, da die Kommune und die Bevölkerung mitziehen. "Wir lassen uns auf das Reallabor ein. Wir sind Versuchskaninchen, dafür haben wir hier Dinge, die andere nicht haben”, sagt der Chef der Ahaus Marketing & Tourismus GmbH, Benedikt Hommöle.
Die zahlreichen Besucher der Smart City nehmen gerne Ideen mit nach Hause. Ein häufig nachgeahmtes Konzept als Einstieg in die Digitalisierung ist der Stadtgutschein: Über 70 Kommunen haben laut Tobit eine solche digitale lokale Währung bereits eingeführt. In Ahaus werden damit Neuzugezogene und Gewinner des wöchentlichen Online-Stadtquiz belohnt, Jubilare geehrt. Arbeitgeber zahlen monatliche Zuschüsse in dieser Form aus. Die Guthaben sind auch als Geschenk oder Taschengeld beliebt.
Das Geld darf jedoch nur innerhalb der Stadt und nur kurzfristig ausgegeben werden. Es gibt knapp 200 Akzeptanzstellen. Hommöle: "Damit kann man Hundefutter kaufen, Brötchen bestellen und neue Reifen aufziehen lassen. Die Kohle bleibt in der Stadt". Jährlich werden fast 800 000 Euro auf diese Weise umgesetzt.
Kein Wunder, dass so gut wie jeder in Ahaus eine chaynsID hat. Das lässt sich unter anderem durch die Pandemie erklären: Die Test- und Impftermine wurden über die Plattform organisiert. Zudem liegt die Stadt nahe der niederländischen Grenze, und bei den Nachbarn ist das digitale Bezahlen sowieso viel selbstverständlicher.
"Das ist die Zukunft, oder?" meint am Ende der Tour Margarete und will auch ihre Kinder vorbeischicken. Für die meisten Besucher ist Ahaus die reinste Science-Fiction. Kürzlich hatte Sommer zehn holländische Bürgermeister da. "Für Deutschland nicht schlecht!", lautete ihr Fazit.