Die National Book Awards 2017
15. November 2017Ein kurzer Blick auf die Bestsellerlisten genügt schon, um zu erkennen, wie unterschiedlich der Literaturgeschmack der Amerikaner ist. Da erscheinen bekannte Autoren, die über viele Jahre hinweg immer wieder erfolgreiche Werke herausgebracht haben, wie etwa John Grisham oder Dan Brown. Neben ihren nach einem bestimmten Muster gestrickten Thrillern tauchen die "Dork Diaries" auf, die witzigen Geschichten eines aufrichtigen Schulmädchens, sowie Bücher von Persönlichkeiten wie Hillary Clinton, die eher für ganz andere Dinge bekannt sind.
Die wilde Mischung an Bestsellern zeigt, dass Lesen, allen Unkenrufe zum Trotz, immer noch eine überaus beliebte Freizeitbeschäftigung der US-Amerikaner ist. Ein Gedichtband von Rupi Kaur konnte sich vor kurzem noch mit über 200.000 verkauften Exemplaren wochenlang auf der Bestsellerliste behaupten. Dennoch geben solche Werke nicht unbedingt Aufschluss über die Neuerscheinungen in den USA. Mit mehr als 304.000 neu veröffentlichten Büchern pro Jahr – also mehr als dreimal so viele wie in Deutschland – werden die USA nur noch von China getoppt. Eine Liste mit zehn Bestsellern kann also kaum die Vielfalt der zeitgenössischen US-amerikanischen Literaturszene widerspiegeln.
Unterschiedlichste Literaturansätze
Falls die Nominierungen für die National Book Awards ein Indiz darstellen, dann muss die US-amerikanische Literaturwelt in der Tat äußerst vielfältig sein. Dieses Jahr hätten die Werke, die es in den vier Kategorien, nämlich Prosa, Sachbücher, Lyrik und Jugendbücher, in die engere Wahl schafften, wohl kaum unterschiedlicher sein können. Angefangen von Masha Gessens Werken über den Totalitarismus in Russland bis hin zu David Granns Berichten über den Mord an Osage-Indianern auf den Ölfeldern von Oklahoma im 19. Jahrhundert, sind die Themen so unterschiedlich wie ihre Autoren selbst. Genauso mannigfaltig sind auch die Stilrichtungen und Genres, derer sich die Autoren bedienen. Während Carmen Maria Machados Kurzgeschichten "Her Body and Other Parties" eine eklektische Mischung aus Realismus und Science Fiction bieten, liest sich Jesmyn Wards "Sing, Unburied, Sing" wie eine epische Familiensaga.
"Wenn man all diese Geschichten betrachtet, haben sie miteinander kaum etwas gemeinsam", sagte Lisa Lucas, geschäftsführende Direktorin der für die Preisvergabe zuständigen National Book Foundation, der DW vor der Preisverleihung am Mittwoch, dem 15. November. "Das Besondere an den USA ist ja, dass es in diesem Land so viele verschiedene Geschichten zu erzählen gibt. So etwas wie eine einheitliche amerikanische Stimme gibt es nicht. Diese eine wahre Stimme besteht aus vielen Stimmen mit vielen Perspektiven."
Diese Vielfalt unterschiedlichster Stimmen mag erklären, warum die National Book Awards einen außerordentliche großen Einfluss auf die amerikanische Literaturszene ausüben. Wie Lucas selbst feststellte: "Vielleicht haben wir nicht gerade den allergrößten Namen, aber wir verfügen über eine riesengroße emotionale Basis."
Setzen die Preise eigene Maßstäbe?
Obwohl weder die Bedeutung der National Book Awards noch die Höhe ihrer Preisgelder mit denen des britischen Man Booker- oder des US-amerikanischen Pulitzer-Preises vergleichbar sind, genießen sie ein sehr hohes Ansehen. Die Liste der bisherigen Preisträger erinnert an ein Vorlesungsverzeichnis einer Universität im Fach "Amerikanische Literatur": Unter den frühesten Preisgewinnern befinden sich klingende Namen wie Saul Bellow, Ralph Ellison und Rachel Carson. Und einige der zur Zeit erfolgreichsten Bücher sind erst kürzlich ausgezeichnet worden, darunter Ta-Nehisi Coates' Werk "Between the world and me" (Zwischen mir und der Welt). Er erhielt den National Book Award 2015, also im gleichen Jahr, in dem er auch mit einem "Genie-Stipendium" der MacArthur-Stiftung geehrt wurde. Der Preisträger in der Kategorie Prosa von letztem Jahr, Colson Whitehead mit seinem Roman "Underground Railroad", konnte zuvor auch den Pulitzer-Preis und die "Andrew Carnegie Medal of Excellence" entgegennehmen.
Weniger als einen Monat vor der Preisverleihung 2017 erhielt auch der in der Kategorie Fiktion nominierte Autor Jesmyn Ward ein "Genius-Stipendium" von MacArthur - was jedoch nicht bedeutet, dass diese Preise sich in ihrer Auswahl gegenseitig beeinflussen würden. Obwohl die Stiftung, eine kleine gemeinnützige Einrichtung mit einem 19-köpfigen Gremium aus Vertretern des Verlagswesens, Agenten und anderen Kulturschaffenden die Award-Preisvergabe seit 1986 betreut, spielt sie keine Rolle bei der Auswahl der Nominierungen und der Gewinner.
Nur Bücher, die zwischen dem 1. Dezember des Vorjahres und dem 30. November des laufenden Jahres veröffentlicht und vom Verleger vorgeschlagen wurden, können von der National Book Foundation berücksichtigt werden. Im Jahr 2017 wurden 1.529 eingereicht, darunter 553 Sachbücher. Sie werden Gutachtern vorgelegt, die jedes Jahr neu ausgewählt werden. Die Kommissionsmitglieder, bestehend aus fünf Gutachtern für jede der vier Kategorien, werden mit Hinblick auf ihre stilistische Vielfalt sowie den persönlichen Hintergrund ausgewählt. Oft sind diese Personen selbst Schriftsteller, die zuvor mit Preisen bedacht wurden, manchmal allerdings auch Buchhändler oder Bibliothekare. Dieses Jahr befinden sich unter den Gutachtern für die Kategorie Prosa die Autoren Dave Eggers, Jacqueline Woodson und Alexander Chee.
Literatur und Lesefähigkeit fördern
Während ihr guter Ruf den Bekanntheitsgrad der Stiftung sicherlich gesteigert hat, ist das eigentliche Ziel der gemeinnützigen Einrichtung allerdings, der amerikanischen Bevölkerung Literatur und Lesekultur näherzubringen. Zu diesem Zweck finden das ganze Jahr über eine Vielzahl von Programmen statt, darunter "5 Under 35": Hier werden fünf aufstrebende Schriftsteller zur besonderen Förderung ausgewählt, alle jünger als 35. Ein anderes Projekt kümmert sich darum, dass Autoren an Schulklassen überall im Land vorlesen. Dann gibt es noch das "Book Up", ein Programm, bei dem Autoren mit Lehrerfahrung ältere Schulkinder in wenigen ausgewählten Städten zum Lesen motivieren sollen. Letztes Jahr wurden im Rahmen dieses Programms 30.000 Bücher an Schüler in verarmten Regionen verteilt.
"Unser Ziel ist es, die Leute dazu zu bringen, Literatur lesen zu wollen - und die Preise sind ein geeignetes Mittel, um das zu erreichen", erklärt Lucas, der 2016 geschäftsführender Direktor der Stiftung wurde und das ganze Jahr über viel Zeit auf Reisen verbrachte, um die Arbeit der Stiftung zu propagieren. "Wir wollen die Leserschaft vergrößern und den kulturellen Wert des Schreibens vertiefen. Und das bedeutet, dass man nicht von einem ganz spezifischen Lesertyp ausgehen darf. Unser potenzielles Publikum ist überall."