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Eishockey in Kanada: Kultur des Schweigens

Mathias Brück
12. Oktober 2022

Seit Ende Mai erschüttert ein Missbrauchsskandal das kanadische Sportsystem. Im Mittelpunkt steht dabei der nationale Eishockeyverband. Nun zieht der erste Verantwortliche Konsequenzen.

Scott Smith bei einer Pressekonferenz
Scott Smith (2.v.r.) ist als Präsident des kanadischen Eishockeyverbandes zurückgetretenBild: Sean Kilpatrick/AP/picture alliance

Der Fall einer mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung einer Frau durch acht junge Eishockeyspieler im Sommer 2018 erschüttert Kanada. Die Vorfälle wurden erst im Mai diesen Jahres publik - und es werden immer mehr Details bekannt. Über Jahre soll der kanadische Eishockey-Verband "Hockey Canada" Missbrauchsopfern Abfindungen in Millionenhöhe bezahlt und Geheimhaltungsklauseln vereinbart haben. Im Zuge dieser Vorwürfe ist nun der Vorstand des Verbands um Geschäftsführer Scott Smith zurückgetreten. Auch die Interims-Verbandschefin Andrea Skinner, die am umstrittenen Smith festgehalten und den Verband vor dem Parlament verteidigt hatte, zog sich zurück.

Für die Sportsoziologin Kristi Allain, die sich intensiv mit sexualisierter Gewalt im Eishockey beschäftigt, war der Rücktritt von Smith unumgänglich. "Scott Smith hat sogar persönlich die Verantwortung getragen bei den Verhandlungen mit dieser jungen Frau", sagte sie dem Deutschlandfunk. "Er hat hinter verschlossenen Türen Sitzungen abgehalten, damit nichts davon an die Öffentlichkeit kommt. Und jetzt zu sagen: Ich bin die Person, die diese neue Ära des Hockeysports einleiten kann? Er ist definitiv nicht diese Person. Er gehört zur alten Garde, und es wird Zeit für einen Neuanfang."

Auch die kanadische Sportministerin Pascale St-Onge bezeichnet die Trennung als einen "Schritt vorwärts, um das Vertrauen der Kanadierinnen und Kanadier in den Verband wiederherzustellen".


Fall bereits seit 2018 bekannt

Der Rücktritt Smiths ist das Ergebnis von Enthüllungen, die belegen, dass "Hockey Canada" jahrelang einen dubiosen Fonds verwendet hat, um Opfer sexuellen Missbrauchs zu entschädigen. Bereits im Juni 2018 meldete sich der Stiefvater einer jungen Frau beim kanadischen Hockey-Verband. Damals fand in der Stadt London in der Provinz Ontario die jährliche Gala statt, auf der die Erfolge der kanadischen Eishockey-Teams des zurückliegenden Jahres gewürdigt werden. Der Mann gab zu Protokoll, dass seine Tochter in der Nacht der Gala von acht Spielern einer Junioren-Nationalmannschaft sexuell missbraucht worden sei. Der Verband schaltete daraufhin die Polizei ein und beauftragte selbst eine Anwaltskanzlei, die dem Fall nachgehen sollte. Beide Untersuchungen wurden nach kurzer Zeit eingestellt - angeblich, weil sich die junge Frau nicht kooperationsbereit zeigte. 

Im vergangenen April dann die Kehrtwende: Das Opfer erstattete überraschend Anzeige gegen den kanadischen Verband und forderte über 3,5 Millionen Euro Schadensersatz. Der TV-Sender "TSN" enthüllte später, dass sich Kanadas wichtigste Sport-Organisation im Mai mit der jungen Frau auf einen Vergleich und Stillschweigen geeinigt habe. "Wir haben uns für eine außenjuristische Einigung entschieden, weil das im besten Interesse und zum Wohl der jungen Frau war, und wir damit ihre Privatsphäre respektieren konnten", behauptete Smith damals. Diese Art der "Einigung" hatte anscheinend Methode.  

Spieler der U20-Weltmeistermannschaft Kanadas von 2018 sollen an einer Vergewaltigung beteiligt gewesen seinBild: Kevin Hoffman/Getty Images

"Fonds" zur Bezahlung der Opfer

Mitte Juli berichtete die Zeitung "The Globe and Mail" von einem speziellen Fonds des Verbands, aus dem seit Jahren außergerichtliche Vergleiche mit Opfern sexueller Gewalt bezahlt worden sein sollen. Ein Ausschuss des kanadischen Parlaments lud im Zuge des Skandals zu mehreren Anhörungen, auch Scott Smith musste sich dabei den Fragen der Abgeordneten stellen. Das verstörende Ergebnis dieser Anhörungen: In den vergangenen Jahren hatte der Verband fast neun Millionen kanadische Dollar (gut 6,7 Millionen Euro) an Betroffene in 21 Fällen gezahlt.

Der Finanzchef von "Hockey Canada", Brian Cairo, hatte Anfang August vor dem Unterhaus lediglich eingeräumt, dass seit 1989 insgesamt 7,6 Millionen Dollar (knapp 5,7 Millionen Euro) für neun Vergleiche gezahlt worden seien, den Fall aus dem Sommer 2018 nicht mit eingerechnet. Das Geld stammte aus dem sogenannten "National Equity Fund", mit dem "Hockey Canada" eigentlich Fairness und Inklusion im Sport fördern möchte. In diesen Fonds fließen unter anderem Mitgliedsbeiträge von Kindern und Jugendlichen ein. 

Ein weiterer Fall eines solchen "Vergleichs mit Verschwiegenheitsklausel" kam im Laufe der Anhörungen ans Licht: Eine Frau soll 2003 von mehreren Spielern einer kanadischen Nachwuchsmannschaft vergewaltigt worden sein, als Beweis soll ein siebenminütiges Video dienen. Sportministerin St-Onge machte deutlich, dass es sich hier keinesfalls um Einzelfälle handele. "Es herrscht eine Kultur des Schweigens und der Verharmlosung von sexueller Gewalt gegen Frauen", sagte sie in einem Fernsehinterview. "Das Sportsystem befindet sich in einer Krise. Und jede Person in einer Führungsposition muss sich dessen annehmen und aktiv werden." 

Scott Smith und Brian Cairo sagten vor dem kanadischen Unterhaus ausBild: Sean Kilpatrick/AP/picture alliance

Sponsoren springen ab

Der Missbrauchsskandal hat auch für die Finanzierung von "Hockey Canada" weitreichende Folgen. Die kanadische Regierung hat mittlerweile reagiert. Sie förderte den Verband bisher jährlich mit Steuergeldern in Millionenhöhe. Diese Zahlungen sind bis auf Weiteres eingestellt. Auch viele langjährige Partner und Sponsoren haben sich inzwischen vom Verband distanziert und die Zusammenarbeit beendet. Der Eishockey-Ausrüster "Bauer" sprang am Dienstag als vorerst letzter einer ganzen Reihe von Geldgebern ab. Zuvor hatten sich unter anderem schon Sportartikelhersteller "Nike" und die kanadische Schnellrestaurant-Kette "Tim Hortons" zurückgezogen.  

Der kanadische Premierminister Justin Trudeau fordert "umfassende Veränderungen" und droht sogar damit, "Hockey Canada" aufzulösen und eine neue Organisation unter dem Namen "Canada Hockey" zu gründen. Abgeordnete verschiedener Parteien verlangen außerdem, Missbrauch im Sport allgemein zu untersuchen. Stellvertretend dafür sagte die liberale Abgeordnete Lisa Häfner gegenüber "TSN": "Wir wissen, dass es nicht nur im Eishockey vorkommt und dass es in vielen Sportarten Probleme mit sexualisierter Gewalt gibt."

"Hockey Canada" hat mittlerweile weitreichende interne Untersuchungen angekündigt. Mit einem Aktionsplan wolle man sich der "toxischen Verhaltensweise" im Eishockey entgegenstellen, ließ der Verband wissen. Sportministerin St-Onge fürchtet, dass der Skandal nur die Spitze eines Eisbergs ist: "Was werden wir nächsten Monat herausfinden? Ich weiß es nicht. Aber viele Menschen sind besorgt."