Schuld und Sühne
22. Juli 2012 Bereits während der Hauptprobe zum "Fliegenden Holländer" Mitte Juli, zu der Journalisten zugelassen waren, lag eine Anspannung in der Luft. So waren beispielsweise sämtliche Szenen mit der Beteiligung des Titelhelden zum Mitschneiden nicht freigegeben. "Wie macht man aber einen Beitrag zum 'fliegenden Holländer' ohne den Holländer?" fragten enttäuschte Fernseh-Teams. Auch zu den Gruppeninterviews mit den Journalisten kam der Sänger nicht. Zuvor hatte er allerdings zahlreiche Interviews gegeben - darunter eines mit dem ZDF-Journalisten Reinhold Jaretzky, dessen Beitrag "Heavy Metal in Bayreuth: Wie ein Rocker zum Opernstar wird" die Lawine ins Rollen gebracht hatte.
Was hat man in Bayreuth gewusst?
Man überprüfe nicht, "was jemand unter dem Hemd trägt", sagt Peter Emmerich, Pressesprecher der Bayreuther Festspiele. Man habe "eine Stimme engagiert". Hautfarbe und Nationalität spielten auch keine Rolle. Dennoch berichtete der Sänger im DW-Interview, er sei vor einem Jahr gebeten worden, alle seine Tattoos zu fotografieren und die Bilder dem Festival zu überlassen - was er auch gemacht hatte. Ursprünglich ging Nikitin offenbar davon aus, man wolle seinen Körperschmuck in die Inszenierung "künstlerisch integrieren".
Spekulationen gibt es vor und hinter den Kulissen nun reichlich. Spielten womöglich andere Faktoren eine Rolle bei der plötzlichen Abreise des russischen Sängers? Gab es künstlerische Spannungen mit dem Regie-Team? War man in Bayreuth mit der sängerischen Leistung nicht zufrieden? Oder war der Sänger selbst überfordert, fühlte sich nicht in der Lage, die Premiere am 25. Juli zu überstehen? "Ich habe mächtig Schiss vor Bayreuth", sagte Evgeny Nikitin Anfang Juni in einem DW-Interview. "Denn in Bayreuth wird man mit mir bestimmt keine Gnade haben. Es ist für mich eine harte Prüfung."
"Jugendsünde" wird dem Sänger zum Verhängnis
Das Hakenkreuz – in Deutschland ein verbotenes Symbol – ist handgroß und sichtlich laienhaft tätowiert auf Nikitins rechter Brust. Darüber eine neuere, bunte Tätowierung, die das alte Motiv jedoch nicht ganz überdeckt. Die Motive sind deutlich zu erkennen in einem Video, das vor etwa sechs Jahren gedreht wurde. Es zeigt den Sänger mit freiem Oberkörper und kahlem Kopf am Schlagzeug. Der jüngste ZDF-Beitrag enthält eine kurze Szene aus diesem Video. Gemacht wurde der Körperschmuck, so Evgeny Nikitin, in seiner frühen Jugend, als er "viel lieber auf der Straße" war und "viele Fehler gemacht hat". Die Auswirkung dieser "Jugendsünde" hat der Sänger offensichtlich unterschätzt.
Hakenkreuz als Provokation rebellierender Teenager?
Evgeny Nikitin ist 1973 in Murmansk geboren, einer Stadt hinter dem Polarkreis, wo im Winter die Sonne bei einer Durchschnittstemperatur von minus 20 Grad Celsius überhaupt nicht aufgeht. Nikitin berichtete im DW-Interview, dass er schon als Jugendlicher während der Polarnacht an schweren Depressionen litt und damals für sich die Rockmusik als Gegengift entdeckte. Das war in den "wilden Neunzigern" nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums. Viele junge Menschen flüchteten aus dieser Realität, gingen ins Ausland oder in den Untergrund. Auch in Russland - einem Land, dessen größter verbindender Nationalmythos der "Sieg über den Faschismus" im "Großen Vaterländischen Krieg“ ist - war und ist die Nazi-Symbolik ein Tabu. Gerade deshalb war sie für viele Jugendliche ein sicheres Mittel, um Eltern und in der Öffentlichkeit zu provozieren.
Nikitins Vater, ein Dirigent, schaffte es durch seine Beziehungen, seinem Sohn einen Platz am Konservatorium von St. Petersburg zu beschaffen. Mehrfach wollte Nikitin das Studium abbrechen, bis der Dirigent Valery Gergiev sein Talent entdeckte und ihn ans Mariinski-Theater holte. Mittlerweile ist er fast 40, erfolgreicher Sänger und Vater zweier Söhne.
"Gebrannte Kinder" in Bayreuth
Schon am Morgen nach der ZDF-Sendung sprach Evgeny Nikitin mit der Festspielleitung. Gleich danach kündigte der Sänger seinen Vertrag und reiste ab. Die Sensibilität in Sachen Nazi-Symbolik am Grünen Hügel ist groß. Schließlich spielt man weiterhin im gleichen Haus, für das Adolf Hitler ein Dauerabonnement hatte. Von dieser Vergangenheit will man sich in Bayreuth nicht wieder einholen lassen. "Lückenlose Aufklärung der Nazi-Vergangenheit" und die Öffnung der hauseigenen Archive hat Katharina Wagner angekündigt. In dieser Saison wird auf dem Festspielgelände und in der Bayreuther Stadthalle die Ausstellung "Verstummte Stimmen" gezeigt. Thema ist die antisemitische Besetzungspolitik der Bayreuther Festspiele in der Vor-Nazizeit.