Elefsina 2023 - Mysterien aus Antike und Industrie
2. Januar 2023"Wenn jemand es schafft, Elefsina zu ändern, dann kann er die ganze Welt ändern", hat einmal ein Künstler gesagt. Gründe, den kleinen Ort zu ändern, gäbe es zur Genüge. Mit seinen 25.000 Einwohnern liegt Elefsina etwa 20 Kilometer westlich von Athen und ist weder sonderlich schön noch pittoresk. Das Griechenland, das man sonst aus Urlaubsfotos kennt, sieht anders aus - Städte mit engen Gassen, Menschen in Tavernen am türkis schimmernden Meer.
In Elefsina sucht man solcherlei Dinge vergeblich. Stattdessen: schmucklose Flachbauten, Industrieruinen, ausrangierte Meeresdampfer, die auf einem Schiffsfriedhof vor sich hin rosten. Doch dazwischen lächelnde Menschen, Herzlichkeit und liebevoll gehegte Gärten. Elefsina ist das ungeschminkte Gesicht Griechenlands: authentisch, vernarbt, schweigsam, würdevoll.
Vielleicht ist gerade dies das Alleinstellungsmerkmal von Elefsina als eine der drei europäischen Kulturhauptstädte 2023 - die kleinste und die älteste in der bisherigen Geschichte der Institution. In der Heimat von Aischylos, dem großen antiken griechischen Dichter, werden 465 Veranstaltungen an 30 verschiedenen Orten zu erleben sein. Unter dem Motto "Mysterien des Wandels" werden 192 griechische und 137 internationale Künstlerinnen und Künstler ihre Arbeiten in insgesamt 17 Kunstsparten präsentieren. Drei thematische Säulen bilden das Grundgerüst des Konzepts: Mensch und Gesellschaft, Umwelt und Arbeit.
Mysterien von gestern und heute
Künstlerischer Leiter ist der 66-jährige Regisseur und Schauspieler Michail Marmarinos. Voller Inbrunst erklärt er beim Treffen mit der DW in der beeindruckenden archäologischen Stätte das verzwickte Netz an geplanten Veranstaltungen. Das antike Elefsina liegt im Herzen der heutigen Stadt. Hier versuchten Menschen sich vor Tausenden von Jahren mit Hilfe der sagenumwobenen "Mysterien von Eleusis" auf die Rätsel des Todes einzulassen. Diese Mysterien gehörten im antiken Griechenland zu den wichtigsten Weihriten überhaupt.
Früher kamen Mystiker zu Tausenden an diesen Ort, um dem Hierophanten, dem Hohepriester der Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit, ihr Schweigen zu geloben. Von den großen Mysterien der Antike wissen wir heute nur noch wenig, dabei hat das altertümliche Elefsina unser heutiges Leben essentiell geprägt: "An diesem Ort begann die Kultivierung von Weizen für die Menschen. An diesem Punkt haben die Menschen ihr Nomadendasein beendet, haben aufgehört umherzuwandern, um Nahrung zu suchen", erzählt Michail Marmarinos, der jeden Winkel dieses magischen und andächtigen Orts zu kennen scheint. Dann ergänzt er mit Nachdruck: "Die Kultivierung der Erde ist der Beginn der Kultur an sich."
Nur einen Steinwurf entfernt befindet sich das Telesterion, das erste "informelle" Theater der Welt, so Marmarinos. Informell, da das Konzept des Theaters damals noch nicht existierte. Doch bereits vor Komödie und Drama versammelten sich Menschen in Elefsina, um den Mysterien beizuwohnen. 2023 werden die Choreografin Sasha Waltz und der Regisseur Jochen Sandig hier das "Human Requiem" aufführen, eine Symbiose aus Klang, Musik, natürlichem Licht und dem menschlichen Körper. Für Marmarinos eine ästhetische Erfahrung, die dem Besucher vor Augen führe, dass Sprache allein nicht ausreiche. Auch das Werk "Ma" von Romeo Castellucci wird hier zur Aufführung kommen. Was dort genau zu sehen ist oder was der Titel bedeutet, bleibt bis dahin ein "Mysterium" für sich.
Stadt der Flüchtlinge
Eine weitere historische Säule der Stadt ist die Industrie. Sie ist beides, Fluch und Segen zugleich. Segen, weil sie Tausenden von Flüchtlingen und Vertriebenen, die 1922 nach der Zerstörung Smyrnis, dem heutigen türkischen Izmir, hergekommen waren, Arbeit und eine neue Existenz bot. Ein Fluch, weil die bis in die 1990er Jahre dominierenden Ölraffinerien, Zementfabriken und anderen Industriezweige nicht nur Beschäftigung und Wohlstand brachten. Elefsina gehört zum westlichen Attika. In Griechenland eine Region mit einer besonders hohen Rate an Krebserkrankungen und starker Umweltverschmutzung.
In den vergangenen 30 Jahren ist die Industrie in der Region stark zurückgegangen, was den wirtschaftlichen Fall Elefsinas zur Folge hatte. An vielen Orten der Stadt sieht man Industrieruinen. Eine alte Farbfabrik wird im Rahmen der Kulturhauptstadt nun neu hergerichtet. Hier entsteht ein Kulturort, der auch nach 2023 an Strahlkraft nicht verlieren und ein Vermächtnis für die Menschen in Attika sein soll. Einer der ersten Gäste wird der bildende Künstler Juan Santovala aus Kolumbien sein. Er wird hier ein Werk schaffen, das den Arbeitern der Stadt gewidmet ist. Daran teilhaben werden Menschen, die in den Fabriken der Region gearbeitet haben oder noch tätig sind. Für jeden von ihnen wird ein Helm aus Keramik hergestellt, der ihnen nach der Ausstellung überreicht wird.
Kultur und die Hoffnung auf Aufschwung
Ein weiterer Spielort, an dem derzeit noch Bauarbeiten stattfinden, ist die alte Olivenmühle. Hier befand sich von 1875 bis 1960 eine florierende Seifenfabrik. Nun wird sie zu einem Begegnungs- und Kunstort umfunktioniert. Die erste Ausstellung ist der ehemaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri und ihrem damaligen französischen Amtskollegen Jacques Lang gewidmet. Mercouri war es, die 1985 die Idee für das Programm der Kulturhauptstädte entwickelte. Lang hatte maßgeblich an der Umsetzung mitgewirkt. Direkt neben der alten Olivenmühle befindet sich ein Freilichttheater, wo u.a. die Nationaltheater aus dem serbischen Novi Sad und der südkoreanischen Hauptstadt Seoul Werke inszenieren werden.
Beeindruckend ist der Schiffsfriedhof in der Bucht von Vlycha. Gut 70 alte Wracks sind hier sich selbst überlassen und verschmutzen das Meer mit Öl und Rost. Für viele Bewohner ist dies ein Schandfleck, den der griechische Staat den Menschen seit Jahrzehnten zumutet. Trotzdem üben die Ozeanriesen einen besonderen Reiz auf den Betrachter aus. Welche Geschichten erzählen sie? Wie der Ort von der Kulturhauptstadt genutzt werden wird, bleibt bislang ein weiteres Mysterium.
Die Bewohner von Elefsina wünschen sich vom ihrem Kulturjahr 2023 vor allem Aufschwung. Sie hoffen auf zahlreiche Besucher aus aller Welt, und darauf, dass die Zentralverwaltung in Athen sie nach den Veranstaltungen nicht vergessen wird. Für die Menschen bietet das kulturelle Rampenlicht eben auch die Möglichkeit, Straßen, Plätze und Bürgersteige zu bauen oder instand zu setzen. Für sie bietet das Jahr 2023 die womöglich einmalige Chance, den Grundstein für eine bessere Zukunft zu legen.