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LiteraturEuropa

Elfriede Jelinek wird 75

20. Oktober 2021

Alles ein großes, absurdes Theater: Scharfzüngig und kompromisslos kommentiert Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek die Welt. Nun wird die Autorin 75.

Nobelpreisträgerin und Autorin Elfriede Jelinek
Nobelpreisträgerin und Autorin Elfriede Jelinek im Jahr 2004Bild: Susan Skelton/SCHROEWIG/picture alliance

Sie schreibt über Sexualität, Gewalt, Massenkultur, den verdrängten Faschismus. Noch in den 1980er- und 1990er-Jahren gab Elfriede Jelinek die unbequeme, scharfzüngige Moralistin, hielt der - wie sie fand - konservativen, bigotten und geschichtsvergessenen Gesellschaft ihrer österreichischen Heimat den Spiegel vor. Mit ihrem sarkastischen, provokanten, mitunter höhnischem Stil brachte sie das halbe Land gegen sich auf. Die Jelinek - eine Wutbürgerin, die bis heute gnadenlos polarisiert.

Seit Elfriede Jelinek 2004 die höchsten literarischen Weihen erhielt - den Literaturnobelpreis - hat sich die Autorin aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Sie gibt kaum mehr Interviews. Was nicht heißt, dass sie die Hände in den Schoß gelegt hätte, auch wenn man sie auf der Frankfurter Buchmesse, der Plattform für Literaten schlechthin, nicht mehr antrifft: präsent ist die Jubilarin trotzdem.

Sie bringt Aufsätze zu Papier, schreibt Essays, Repliken, Tiraden, Polemiken, Nachrufe, Reflexionen und daneben auch noch Theaterstücke und Romane. "Schreiben müssen", betitelte sie 2003 einen Beitrag für die Wiener Zeitung "Der Standard", eine Hommage an "die Sprache, die alles öffnet und alles schließt und sich allem verschließt und selber alles ist." Mit Sprache, für Jelinek ein "Instrument" im "Reich des Gestaltens", soviel ist sicher, erzeugt sie einen nicht abreißenden Wortstrom.

Jelinek spitzt zu, regt auf

Ihr Denken kreist häufig um ihre Rolle in der Welt und um das Verhältnis der Menschen zueinander, aktuelle Bezüge nicht ausgeschlossen. So ist ihr neues Stück "Lärm", eine Stimmencollage über die Covid-19-Pandemie, Anfang Juni 2021 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufgeführt, ein Wortschwall an Nachrichten, Erklärungen, Gerüchten, Theorien und Verschwörungsmythen rund um Corona. "Schwarzwasser" heißt Jelineks Drama vom Februar 2020, das aus Anlass der "Ibiza-Affäre" entstand, eines Polit-Skandals, der 2019 einen Teil von Österreichs Regierung zu Fall bringt.

Elfriede Jelineks aktuelles Theaterstück "Lärm" über die Vielstimmigkeit der Coronapandemie.Bild: Matthias Horn

Mit ihrem Theaterstück "Wut" reagiert Jelinek auf auf den Terroranschlag auf das Pariser Satiremagazin "Charlie Hebdo" im Jahr 2015. Das Drama kreist um die Wut religiöser Fanatiker und die Wut vermeintlich anständiger Bürger. Eine Gruppe Rechtsextremer hatte im Jahr zuvor das Audimax der Universität Wien gestürmt, als dort Jelineks Flüchtlings-Stück "Die Schutzbefohlenen" aufgeführt wird. Die Störer verspritzen Kunstblut und werfen Flugblätter mit dem Slogan "Multikulti tötet".  

Nicht nur in ihrem Heimatland steht Elfriede Jelinek im Ruf einer radikalen Feministin und Provokateurin, deren Werk zwar "auf artistischem Sprachniveau rangiert" (Der Spiegel), dafür aber schwer zugänglich ist. Als "Kunst- und Kulturschänderin" prangern sie viele Landsleute an, verunglimpten sie als "rote Pornografin". Viele Medien machen sich immer wieder zum Sprachrohr solcher Kritik.

Jelineks Werk umfasst Romane, Theaterstücke, Gedichte, Hörspiele, Essays und Drehbücher. In Österreich und Deutschland räumte die Autorin, die abwechselnd in Wien und München lebt, alle wichtigen Auszeichnungen ab - den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (1986) ebenso wie den Georg-Büchner-Preis (1988), den Mülheimer Dramatikerpreis (2002/2004) ebenso wie den Hörspielpreis der Kriegsblinden (2004). Im Oktober 2021 bedachte der Wiener Bühnenverein Elfriede Jelinek mit dem "Nestroy" für ihr Lebenswerk.

Überrascht vom Literaturnobelpreis

Nobelpodcast - Interview mit Elfriede Jelinek

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Jelinek, am 20. Oktober in Mürzzuschlag in der Steiermark geboren, wuchs in Wien auf. Als junge Frau sah sie sich mit eigenen psychischen Problemen und der Nervenkrankheit ihres Vaters konfrontiert. Von einer "dämonischen" Mutter, sei sie zum Wunderkind mit Tanz- und Musikunterricht dressiert worden, erzählte sie einmal. Sie habe zu schreiben begonnen, um der Bevormundung der Mutter zu entkommen.

Die Debatten um ihre Romane, Gedichte und Theaterstücke dürften an der Autorin nicht spurlos vorübergegangen sein. Ihr frühes Buch "Lust" kritisiert die Männer- und Klassengesellschaft und prangert die sexuelle Unterdrückung der Frau an. Ihr später verfilmter Roman "Die Klavierspielerin" (1983) ätzt gegen strukturelle Gewalt im Privaten, "Babel, Die Kinder der Toten oder Stecken, Stab und Stangl" (1995) skandalisiert die Medien- und Politikerreaktion auf die Morde an vier burgenländischen Roma. In ihrem Flüchtlingsdrama "Die Schutzbefohlenen" (2014) fragt Jelinek nach dem Umgang mit Geflohenen.

Brachte halb Österreich gegen sich auf: Die Schriftstellerin Elfriede JelinekBild: Techt/epa/apa/dpa/picture alliance

Als im Herbst 2004 die Nachricht aus Stockholm eintrifft, ist damals sogar ihr Berliner Verlag überrascht. Doch der Verleihung des Literatur-Nobelpreises bleibt Jelinek fern, während sie das Preisgeld einbehält. Jedes Land, sollte man meinen, bekommt die Schriftsteller, die es verdient. Österreich hat die schreibende Wutbürgerin Elfriede Jelinek.

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