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Literatur

Else Lasker-Schüler: "Mein Herz"

Rick Fulker spe
6. Oktober 2018

Unangepasst, provokativ, vergnügt und verzweifelt: Die expressionistische Dichterin schrieb einen Abgesang auf eine Ehe – und auf eine ganze Ära.

Else Lasker-Schüler, Porträtaufnahme, 1932
Bild: picture-alliance/akg-images

Eine Frau schreibt Briefe an ihren Ehemann. Die Ehe – ihre zweite – ist in Auflösung begriffen. Heiter erzählt sie von diversen Liebschaften, Begegnungen und Träumen, vom Klatsch und Tratsch im "Café des Westens" am Kurfürstendamm in Berlin, da, wo sich die Künstlerszene trifft.

Eigentlich müsste die 42-Jährige verzweifeln: Sie ist völlig mittellos und lebt von den Zuwendungen ihrer Freunde. Davon hat sie allerdings viele: die bildenden Künstler Oskar Kokoschka und Emil Nolde, die Schriftsteller Peter Baum, Richard Dehmel und Karl Krauss. Letzterer nennt sie "die stärkste und unwegsamste lyrische Erscheinung des modernen Deutschland". Sie trägt extravagante Bekleidung, nennt sich Prinz Jussuf von Theben, Blauer Jaguar oder Tino von Bagdad. Sie hat einen illegitimen Sohn, feiert die sexuelle Freizügigkeit, schreibt Gedichte und Schauspiele, zeichnet – und sie ist Jüdin.

"Mein Herz" von Else Lasker-Schüler

01:56

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Lady Gaga in Berlin

Else Lasker-Schüler ist eine Art Lady Gaga von Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Briefe an ihren Ehemann Georg Lewin, dem sie den Namen Herwarth Walden gegeben hatte, entstehen zwischen 1911 und 1912. Sie erscheinen vorab in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift für zeitgenössische Kunst und Literatur "Der Sturm", danach im Briefroman "Mein Herz". Unter dem Titel steht: "Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen". Und ein weiterer Untertitel: "Mein Herz – Niemandem".

Zunächst stolpert der Leser über die Sprache des Romans, etwa wenn es heißt:

"Es ist so aufatmend, wenn einem auf einmal alle die verantwortlichen Gedanken und eingenisteten Gefühle von der Schulter gleiten und man eine Marionette ist, am feinen Seidenfaden geleitet... Ich lehne, seitdem ich ihn kenne, oft an schwarzangestrichenen Wänden der Häuser und werde süß."

Hier traf sich die Berliner Künstlerszene in den 10er Jahren des 20. JahrhundertsBild: public domain

Die Begegnungen und Liebesaffären in "Mein Herz" sind teilweise echt, teilweise vielleicht erfunden – aber die Unterscheidung ist nicht wichtig. In ihrer kompromisslosen Subjektivität haben Else Lasker-Schüler und ihre expressionistischen Zeitgenossen der bürgerlichen Kultur den Kampf angesagt, leben in billigen Hotelzimmern, Cafés und auf der Straße und versuchen, ihre Utopie dort zu verwirklichen. Auch ihr Vorbild, der verstorbene "obdachloser Dichter" Peter Hille, hatte am Rande der Gesellschaft gelebt.

Eine selbstbewusste Frau

"Ich habe dir schon lange gesagt, Herwarth, ich trete auf als Aujuste und spreche so mit dem Gänseschnabel meinen Fakir und meinen Ached-Bey und meine Gedichte. Gangolf war bewegt darüber …"

Für den Lasker-Schüler-Neuling ergibt das zunächst keinen Sinn. Sind es Hirngespinste, Wortschöpfungen, Fantasien, Träume, Erfundenes oder Echtes? Und ist das Prosa oder Dichtung? In der Sprache dieser Wortkünstlerin verwischen sich die Grenzen. Die einzige Konstante ist ihre eigene innere Welt: "Hätte ich je einen Menschen so unumstößlich erlebt, wie ich mich!"

Konstant ist auch ihr Herz, das niemandem gehört: "Aber wer weiß von meinem Herzen? … Ich liege zwischen Meer und Wüste, ein Mammuth. Mein Bau ist furchtbar und vornehm… Gestern Abend war mein Herz granatrot, ich konnte die Farbe im Munde vernehmen, kosten."

Ihr zweiter Ehemann Herwarth Walden war in der Berliner Künstlerszene aktivBild: picture-alliance/akg-images

Elses Credo

Wo es wirklich um Else Lasker-Schülers Credo geht, wird der Ausdruck allerdings glasklar: "Man kann nicht in den Himmel kommen, hat man ihn nicht in sich, nur Ewiges drängt zur Ewigkeit. … Der Himmel belohnt und verdammt nicht. … Die Gottheit Himmel im Menschen ist Genie."

Hinter dem meist spielerischen Grundton verbirgt sich aber auch manchmal eine unfassbare Einsamkeit: "Ich bin die letzte Nuance von Verlassenheit, es kommt nichts mehr danach. … Was nützen mir deine lieben Briefe und Postkarten! Ich kenn dich und du kennst mich, wir können uns nicht mehr überraschen, und ich kann nur leben von Wundern. Denk dir ein Wunder aus, bitte!"

In einem der letzten Briefe der Sammlung ist die Schreiberin ihrem Ziel des grenzenloses Künstlertums nahe – und gleichzeitig resigniert: "Nun bin ich wie ein durchsichtiges Meer ohne Boden, ich habe keinen Halt mehr. … Was helfen mir nun Deine bereitwilligen Hände und die vielen anderen Finger, die mich bang umgittern, durch die meine Seele grenzenlos fließt. … Ich bin ungebunden, überall liegt ein Wort von mir, von überall kam ein Wort von mir."

Zugewinn in der Übersetzung 

"Mein Herz" ist nicht nur Else Lasker-Schülers Abschied von Herwarth Walden sondern auch von einer schillernden Berliner Kultur, die bald mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende gehen sollte.

Die 104 Seiten sind keine leicht Kost. Streckenweise lesen sie sich wie dicht geschriebene Poesie im Fließtext, ohne Reim oder Metrum, dafür mit changierenden Farben, eruptiven Gedankensprüngen und verblüffenden Wendungen.

Wenn man sprachlich nicht mehr weiter weiß, kommt man vielleicht weiter durch den Zugriff auf die ÜbersetzungBild: DW

"Mein Herz" kann man nur häppchenweise lesen und verdauen. Empfehlenswert ist zwischendurch der Zugriff auf die englische Übersetzung: einerseits um einen Hinweis zu bekommen, was der eine oder andere Ausdruck möglicherweise bedeuten könnte – aber nicht zwangsweise bedeuten muss – andererseits, um sich bewusst zu machen, welche nach-schöpferische Arbeit in so einer Übersetzung steckt, wie unmöglich es im Grunde ist, einen solchen Text zu erfassen – oder dessen Autorin zu begreifen.

Man muss sich einfach auf Else Lasker-Schülers Welt einlassen. Nicht einfach, aber tut man es, dann wird man reichlich belohnt.

Der avantgardistische Briefroman "Mein Herz" erschien 1912 bei Heinrich F. S. Bachmair in München und Berlin.

Elsa Lasker-Schüler, 1869 in Wuppertal-Elberfeld in einer jüdischen Bankiersfamilie geboren, gilt als wichtigste Dichterin des deutschen Expressionismus. Neben einigen Gedichtbänden schrieb sie drei Schauspiele, Kurzgeschichten, Aufsätze und Briefe. Im Deutschland zwischen den Weltkriegen setzte sie sich für die Gleichberechtigung von Homosexuellen ein – und später in Israel für die Versöhnung zwischen Juden und Arabern. 1932 ging sie ins Exil in die Schweiz, später nach Palästina. Nach der Scheidung von ihrem zweiten Ehemann Herwarth Walden sollte Lasker-Schüler bis zu ihrem Tod im Jahre 1945 nie wieder einen festen Wohnsitz haben.

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