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Eltern im Sport: Wenn starker Ehrgeiz zu Misshandlung führt

Jonathan Harding
8. April 2025

Der Prozess gegen den Vater von Norwegens Leichtathletik-Olympiasieger Jakob Ingebrigtsen wegen körperlicher und seelischer Misshandlung wirft Fragen zur Elternrolle bei der sportlichen Entwicklung von Kindern auf.

Jakob Ingebrigtsen im Gerichtssaal während des Prozesses gegen seinen Vater
Leichtathletik-Olympiasieger Jakob Ingebrigtsen während der Gerichtsverhandlung gegen seinen Vater GjertBild: Lise Åserud/NTB Scanpix/AP/dpa/picture alliance

Im Sport gibt es viele berühmte Beispiele sogenannter Wunderkinder, die von ihren Eltern gefördert und zeitweise auch trainiert wurden. Die deutsche Ausnahme-Tennisspielerin Steffi Graf und ihr Vater Peter Graf sind eines der prominentesten Beispiel, auch Golfer Tiger Woods und sein Vater Earl oder die Tennis-Schwestern Serena und Venus Williams und ihr Vater Richard.

Mit Gjert Ingebrigtsen, dem Vater von Norwegens Leichtathletik-Star Jakob Ingebrigtsen, steht derzeit ein bekannter Trainer-Vater vor Gericht. Der Vorwurf: Er soll seine Kinder, darunter auch Jakob, den zweifachen Olympiasieger im Mittelstreckenlauf, körperlich und seelisch misshandelt haben.

Insgesamt hat Gjert Ingebrigtsen vier Kinder, die Leistungssportler in der Leichtathletik sind oder waren. Neben Jakob (24) dessen älteren Brüder Filip (31) und Henrik (34) sowie die jüngere Schwester Ingrid (19). Der Vater hat alle trainiert, bis sie sich 2022 vom ihm trennten. Ingrid hörte bereits 2021 als 15-Jährige mit dem Sport auf.

Erfolgreiches Trio: die Brüder Henrik, Jakob und Filip Ingebrigtsen (v.l.n.r.) bei der Leichtathletik-EM 2018Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

"Meine Erziehung war sehr von Angst geprägt. Alles wurde kontrolliert und für mich entschieden", sagte Jakob Ende März vor Gericht aus. Seine Schwester Ingrid erinnerte sich an einen Vorfall, bei dem sie behauptete, ihr Vater habe sie gezwungen, weiterzulaufen, obwohl sie vergessen hatte, ihre Asthma-Medikamente zu nehmen.

"Am Ende sprang ich vom Laufband, rannte in mein Zimmer und schnappte nach Luft", sagte Ingrid vor Gericht. "Ich habe versucht, mich zu beruhigen und danach zum Ausdruck gebracht, dass ich mit der Leichtathletik aufhören wollte."

"Präsenz von Gewalt im Sport sehr hoch"

Bettina Rulofs ist Professorin für Diversity Studies im Sport an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Im Januar war Rulofs Mitautorin eines Buches mit dem Titel: "Kindesmissbrauch im Sport: Critical Perspectives", ein Thema, zu dem Rulofs seit vielen Jahren geforscht und gearbeitet hat. Die Herausforderung im Hochleistungssport besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen Leistungsverbesserung und Sicherheit und Gesundheit zu finden, aber Rulofs glaubt, dass das Umfeld des Spitzensports dies noch viel schwieriger macht.

Gjert Ingebrigtsen sagt über sich selbst, er sei oft mehr Trainer als Vater für seine Kinder gewesenBild: Paul S. Amundsen/NTB/picture alliance

"Ich denke, wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Prävalenz von psychischer Gewalt im Sport im Allgemeinen sehr hoch ist. Wir haben eine europäische Studie über die Häufigkeit und die Formen von Missbrauch und Gewalt im Sport durchgeführt und festgestellt, dass 65 Prozent der Befragten angaben, in ihrer sportlichen Laufbahn eine Form von psychischer Gewalt erlebt zu haben", erläutert Rulofs die Ergebnisse einer Umfrage mit über 10.000 Teilnehmern in fünf europäischen Ländern.

Tritte und Schläge

"Dies zeigt, dass psychologische Verletzungen im Sport zum Spiel zu gehören scheinen. Wir müssen uns der Situation bewusst sein, dass Sport viel mit der Möglichkeit von emotionalen Verletzungen zu tun hat", so Rulofs weiter. "Es scheint etwas ganz Normales zu sein, im Sport beleidigt, bedroht, beschämt oder auf psychologischer Basis verletzt zu werden. Das ist kein positives Ergebnis unserer Studie, aber das ist etwas, womit wir uns auseinandersetzen müssen."

Gegen Gjert Ingebrigtsen bestehen auch Vorwürfe der körperlichen Misshandlung, darunter Tritte gegen Jakob und Schläge gegen Ingrid mit einem nassen Handtuch. Der Vater hat zwar eingeräumt, dass er ein anstrengender Elternteil war, bestreitet aber alle Gewaltvorwürfe, die ihm eine Gefängnisstrafe von bis zu sechs Jahren einbringen könnten.

Eine Möglichkeit, mit solchen Fällen umzugehen, ist ein wirksames Meldesystem, insbesondere für nicht strafrechtlich relevante Vorfälle. Aber auch das bleibt eine Herausforderung in vielen Spitzensportumgebungen, in denen Bedingungen, die nicht sicher oder gesund sind, normal geworden sind.

Autonomie als Herzstück der Sicherheit

Die Eltern müssen Fragen stellen und dafür sorgen, dass sie sich aktiv in das sportliche Umfeld ihres Kindes einbringen. Vor allem aber sollten sie darauf achten, ihren Kindern die Möglichkeit zu geben, selbst zu entscheiden.

"Ich denke, eine sehr wichtige Frage ist, inwieweit Eltern in der Lage sind, eine Situation zu schaffen, in der Kinder in der Lage sind, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und einen auf Autonomie basierenden Ansatz bei der Verwirklichung ihrer eigenen Wünsche und der Entwicklung ihrer eigenen Kompetenzen zu entwickeln", so Rulofs gegenüber der DW.

Im Sport sind Kinder in gewisser Weise von Erwachsenen abhängig, wenn es darum geht, ihre Fähigkeiten und Leistungen zu verbessern, fügte sie hinzu. Die Frage ist jedoch, wie man auf diesem Weg der Entwicklung ein Gleichgewicht findet, das das Kind mit einbezieht.

"In unserer Arbeit versuchen wir, sichere Sportumgebungen zu schaffen. Wir wenden immer das Prinzip der Mitsprache, der Wahl und des Ausstiegs an. Die Athleten müssen die Möglichkeit haben, ihre Bedürfnisse und Erwartungen zu äußern. Den Sportlern müssen auch verschiedene Optionen angeboten werden, damit sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Und die Sportler müssen Ausstiegsmöglichkeiten haben. Das ist im Spitzensport ein großes Problem, denn wenn man so viel in eine Spitzensportkarriere investiert hat, ist normalerweise die ganze Familie involviert, und eine Ausstiegsmöglichkeit fehlt."

Eltern als vernachlässigte Partei

"Ich denke, dass in den Diskussionen und Studien, die sich mit sicherem Sport beschäftigen, die Eltern etwas vernachlässigt werden", sagte Rulofs. "Eltern sind, vor allem wenn ihre Kinder noch minderjährig sind und Spitzensport betreiben, sehr, sehr wichtige Akteure bei der Schaffung eines sicheren Sportumfelds. Wir müssen sie in alle Schritte des Schutzes einbeziehen."

Dr. Bettina Rulofs (2.v.l.) ist der Meinung, dass die Rolle der Eltern im Sport nicht ausreichend beachtet wirdBild: Wolfgang Kumm/dpa/picture alliance

Gemeinsam mit Kollegen an der Deutschen Sporthochschule in Köln hat Rulofs ein Projekt mit dem Namen "Sichere Vereine" ins Leben gerufen, das Erwachsenen in Sportvereinen eine spezielle Schulung und Ausbildung bietet und ein pädagogisches Instrument für Eltern umfasst. Nach einer langen Phase der Konzeption, Anwendung und Bewertung besteht die Hoffnung, dass viele der 90.000 Sportvereine in Deutschland das Projekt nutzen werden.

Am dringlichsten wäre das wahrscheinlich in den Sportarten, die Talentsuchsysteme verwenden und in denen ein erhöhtes systematisches Risiko besteht, dass Familien, die an oder unter der Armutsgrenze leben, von den Versprechungen des Sports ausgenutzt werden.

"Wir wissen von Fällen, in denen zum Beispiel besonders junge Kinder mit Flüchtlingshintergrund von Talentscouts ausgewählt werden und ihnen ein sicheres Zuhause versprochen wird, das Chancen für eine Karriere im Sport bietet. Und das ist natürlich eine Situation, die leicht ausgenutzt werden kann."

Hoffnung durch Sensibilisierung

Vereine, Verbände und Vereinigungen gehen mittlerweile proaktiver mit dem Thema um. Die Aufklärung und der Zugang zum Thema Kindersicherheit haben sich verbessert. Es gibt Mitarbeiter in vielen Klubs und Organisationen, die sich speziell um die Sicherheit junger Menschen kümmern. Am wichtigsten ist aber vielleicht, dass viele Teile der Gesellschaft dem Thema gegenüber aufgeschlossener sind.

"Es ist offensichtlich, dass es schon immer Fälle von Missbrauch und Gewalt im Sport gegeben hat, aber niemand hat darüber gesprochen", sagt Rulofs. "Dass wir heute in der Lage sind, darüber zu sprechen, unsere Stimme zu erheben, eine Meldung zu machen und angehört zu werden, ist sehr wichtig."

Der Text wurde vom englischen Original "Pushy sporting parents: How far is too far?" adaptiert.

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