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EM 2024: Beeinflusst der Napoléon-Komplex Schiedsrichter?

18. Juni 2024

Ein deutsches Forscherteam glaubt, dass Schiedsrichter Fußballspieler dann strenger bestrafen, wenn diese größer sind als sie. Eine These, die auf dem Napoléon-Komplex beruht - der allerdings umstritten ist.

Ein Fußball-Schiedsrichter zeigt eine Gelbe Karte (Archiv)
Bei der EM sollen die Schiedsrichter für mehr Transparenz sorgen und strittige Entscheidungen gegenüber den Spielern begründen.Bild: Ellerbrake/Fotostand/picture alliance

Abseits? Foul? Handspiel? Beim Fußball gab es immer schon hitzige Diskussionen über strittige Schiedsrichterentscheidungen. Auch deshalb wird jedes professionelle Fußballspiel in der Regel von einem Hauptschiedsrichter auf dem Feld geleitet, der von zwei Linienrichtern und einem 4. Offiziellen unterstützt wird. Um Fehlentscheidungen zu verhindern gibt es zudem häufig einen Video-Assistenten, der sich strittige Entscheidungen auf einem Fernseher gegebenenfalls in Zeitlupe ansieht und den Hauptschiedsrichter informiert, denn zahlreiche Kameras beobachten aus unterschiedlichen Winkeln penibel fast jeden Moment des Spiels.

Obwohl also ein Schiedsrichter sein Urteil nicht alleine trifft, erscheinen manche getroffenen Entscheidungen eher willkürlich. Denn der Hauptschiedsrichter hat beim Fußball einen vergleichsweise großen Ermessungsspielraum.

Kompensierte Körpergröße

Deutsche Forschende haben jetzt - passend zur Europameisterschaft - das Verhältnis der Körpergröße von Schiedsrichtern und Fußballspielern analysiert. Laut ihrem Preprint, das noch nicht von der Fachwelt geprüft wurde, bestrafen kleinere Schiedsrichter größere Fußballspieler strenger, um ihre vermeintlich geringere körperliche Dominanz zu kompensieren. 

Aha, mag sich manch ein Fußballfan denken, so ist das also! Von wegen fair und objektiv! Eine krasse Fehlentscheidung, nur weil der Schiri einen Komplex hat!

Doch ob an dieser These tatsächlich etwas dran ist wird sich erst zeigen, wenn diese Vorab-Veröffentlichung der wissenschaftlichen Begutachtung auch standhält.  

"Hier wird nach meiner Pfeife getanzt"

Für die Untersuchung haben die Wissenschaftler Dr. Hendrik Sonnabend und Giulio Callegaro von der Fernuniversität in Hagen gemeinsam mit Mario Lackner von der Johannes-Kepler-Universität Linz die Daten der deutschen Bundesliga der Männer zwischen 2014 und 2021 analysiert und dabei mehr als 2.340 Spiele, die von männlichen Schiedsrichtern gepfiffen wurden, angeschaut. So verlockend kann Forschungsarbeit also auch aussehen. 

Laut Preprint pfeift ein im Vergleich kleinerer Schiedsrichter bei einem größeren Spieler eher ein Foul und greift eher zu einer gelben Karte, wollen die Forschenden herausgefunden haben.

"Die Neigung dazu, härter zu bestrafen, ist zehn Prozent höher, wenn die Spieler deutlich größer als die Schiedsrichter sind, verglichen mit Situationen auf Augenhöhe", so Sonnabend.

Autorität durch Bestrafung

Laut der Forschenden lasse sich der Napoléon-Komplex gerade in der ersten Halbzeit gut erkennen. "Es wird offensichtlich, dass Strafen genutzt werden, um Autorität zu demonstrieren. Wenn ihnen das nicht über physische Dominanz gelingt, gibt es eine Strafe, ganz nach dem Motto – hier wird nach meiner Pfeife getanzt", erklärt Sonnabend.

In den zweiten Halbzeiten nehmen die "härteren" Strafen wie gelbe Karten bei den im Verhältnis kleineren Schiedsrichtern ab. "Das kann daran liegen, dass die Spieler gemerkt haben, dass der Schiedsrichter Vergehen schnell ahndet", vermutet Hendrik Sonnabend. 

Der kleine, große Kaiser

Grundlage für die Untersuchung ist der sogenannte "Napoléon-Komplex", der in der Psychologie allerdings umstritten ist. Die Theorie besagt, dass sich Menschen von geringerer Körpergröße, insbesondere Männer, eher aggressiv oder dominant verhalten, um ihre geringe Größe auszugleichen. 

Bereits 2023 zeigte eine Studie zum Napoléon-Komplex, dass etwaige Kompensationsversuche weniger mit der tatsächlichen Körpergröße zu tun haben als mit dem Wunsch größer zu sein. Laut der Studie aus Padua neigen Menschen, die gerne größer wären, zu narzisstischen oder manipulativen Zügen.

Benannt ist die Theorie nach dem französischen Kaiser Napoléon Bonaparte. Der Irrglaube vom dem vermeintlich "kleinen Kaiser" beruht allerdings auf einem Umrechnungsfehler. Tatsächlich war Napoléon mit seinen 169 Zentimetern Körpergröße für seine Zeit eher durchschnittlich bis überdurchschnittlich groß. 

Warum so grimmig? Durch ein falsche Berechnung der Maßeinheiten galt der mächtige Napoleon als "kleiner Kaiser".Bild: Hendrik Schmidt/dpa/picture alliance

Umgekehrter Napoleón-Komplex

Gleichzeitig gebe es laut Preprint bei Spielen aber auch den umgekehrten Napoleón-Komplex: Kleinere Spieler würden um 16 Prozent weniger bestraft als Spieler, die ähnlich groß sind wie der Schiedsrichter. Groß zu sein, gehe offenbar mit einer gewissen Gelassenheit einher, so die Forschenden.

Lehren aus dem Sport fürs Arbeitsleben?

Ob sich diese Vorab-Veröffentlichung tatsächlich belegen lassen, wird sich bei der wissenschaftlichen Begutachtung zeigen. Eigentlich forscht Hendrik Sonnabend im Bereich Arbeits- und Verhaltensökonomik. Seiner Ansicht nach lassen sich Beobachtungen im Sport zum Teil auch auf unser Verhalten im Alltag oder im Job übertragen. 

Die Hagener Forschenden glauben, dass eine Voreingenommenheit in Bezug auf die Körpergröße auch in Vorstandsetagen, bei Bewerbungsverfahren und bei Leistungsbewertungen weit verbreitet sind. Und diese Voreingenommenheit wirke sich auch auf Karrierechancen, Beförderungen oder im Arbeitsalltag aus. 

Autorität lasse sich aber nicht nur durch Bestrafung, sondern vor allem durch klare Ansagen und eine entsprechende Köpersprache erzeugen. Und eine Bewertung müsse – egal ob im Arbeitsalltag oder im Fußball - immer fair sein und dürfe nicht von anderen Merkmalen wie der Sympathie oder der Körpergröße verzerrt werden, so die Forschenden.

 

Quellen:

The Napoleon complex, revisited: Those high on the Dark Triad traits are dissatisfied with their height and are short, 2023

The Napoleon complex revisited: New evidence from professional soccer, 2024

 

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