Ende des Zweiten Weltkriegs: "Sie hängten ihre Kinder!"
7. Mai 2025
Als George Leitmann zum ersten Mal nach Deutschland kommt, ist er 19 Jahre alt. Es ist Frühjahr 1945, nicht lange vor dem Kriegsende in Europa. An allen Fronten rücken US-Soldaten, britische Soldaten und die Rote Armee der Sowjetunion vor, um Europa von den Verbrechen des Nationalsozialismus unter Adolf Hitler zu befreien.
Als Leitmann und seine Kameraden vom 286. Pionierbataillon der 6. US-Armee deutschen Boden betreten, tobt immer noch der Krieg. In den süddeutschen Dörfern ist die Lage unübersichtlich. "Der Frontverlauf war extrem fließend", erinnert er sich. Wehrmacht und SS kämpfen in den letzten Kriegsmonaten fanatisch für den Erhalt der untergehenden Naziherrschaft.
George hat viele Schrecken des Krieges erlebt. Manche haben ihn nie verlassen.
"Wir kamen in einen Vorort", erinnert er sich fast 80 Jahre später. "Und da waren 15 bis 20 Kinder. Alles Jungen. Sie waren zehn bis zwölf Jahre alt." Tot. Sie waren erhängt worden. "Ich klopfte an die nächstbeste Tür und fragte, was passiert war." Die Bewohner erzählen ihm: Es waren Mitglieder der berüchtigten deutschen Waffen SS, die die Kinder getötet hatten. "Sie hatten offenbar die Kinder des Ortes zusammengetrieben und jedem eine Panzerfaust gegeben. Und den Befehl zu schießen, wenn der erste amerikanische Panzer in Sicht käme."
Als die Panzer dann kamen, rannten die Kinder weg. "Einen Tag später kam die SS zurück, trieb die Kinder zusammen und hängte sie an Bäumen auf. Sie hängten ihre Kinder!" Historiker dokumentieren später zahlreiche Morde der Wehrmacht und der SS an deutschen Zivilisten, die nicht mehr kämpfen wollten, die sogenannten Endphaseverbrechen.
Die Deutschen ermordeten Millionen Menschen in Deutschland und Europa, sie ermordeten auch ihre eigenen Kinder. "Es ist dieses Bild, dass ich nie vergessen habe: Wie die Leichen der Kinder im Wind baumeln."
Zweifel an der Menschheit
Seine Kriegseindrücke haben George Leitmann für immer geprägt. "Das Bild der Kinder wurde für mich so tiefgreifend, dass ich Zweifel an der Menschheit bekommen habe. Vielleicht ist es das, was mich bis heute am meisten verstört, dass du dir als Mensch nicht selbst trauen kannst. Denn was die SS motiviert hatte, war nicht rational."
Er, der US-Soldat und Befreier, hinterfragt sich selbst angesichts der Verbrechen der Anderen. Vielleicht ist das einer der großen bleibenden Unterschiede zwischen den Biographien der Opfer des Nationalsozialismus und denen der Täter: In den Jahrzehnten nach Ende des Krieges leugnen fast alle deutschen Massenmörder und ihre Helfer die eigene Verantwortung für einen Krieg, der über 60 Millionen Menschen das Leben gekostet hat.
Und sie leugnen ihre Unterstützung der faschistischen Ideologie, die Menschenleben in lebenswert und unwert einteilt, und die im industriellen Massenmord an den europäischen Juden, an Sinti und Roma und zahlreichen weiteren Menschen endete. Die Deutschen erschießen, vergasen, ermorden allein 1,5 Millionen Kinder - die meisten, weil sie Juden sind.
George Leitmann ist nicht nur ein US-Soldat, der gegen Nazi-Deutschland kämpft. Er ist selbst Holocaust-Überlebender. Geboren wird er in Wien, der Hauptstadt Österreichs. Als die Nazis das Land übernehmen, beschließt seine jüdische Familie 1940 auszuwandern. George, seine Mutter und seine Großeltern bekommen Visa für die USA. Nur sein Vater Josef nicht. Der setzt sich 1940 ins damalige Jugoslawien ab. Als er in Sicherheit scheint, besteigen George und der Rest seiner Familie das rettende Schiff in die USA. Seinen Vater wird er nie wiedersehen.
Das Ausmaß der Verbrechen der Deutschen hat Leitmann nie losgelassen. Er macht nach dem Krieg in den USA eine wissenschaftliche Karriere. Viele Jahre lang lehrt er als Professor für Ingenieurwissenschaften an der US-Eliteuniversität Berkeley in Kalifornien. Er erhält zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen.
In Berkeley lebt er mit seiner 100-Jährigen Ehefrau Nancy bis heute in einer Seniorenresidenz. Und bis heute stellt er sich Fragen: "Ich frage mich oft: Wie ist es möglich, in so kurzer Zeit aus so gebildeten Menschen wie den Deutschen so etwas Schlechtes zu machen?"
Er hat keine Antwort auf die Frage. Wie auf so viele andere Fragen nicht. Aber sie lassen ihn nicht los. Sie kreisen in seinem Kopf. "Wann immer ich Deutsche traf, fragte ich mich, wie schuldig sie oder ihre Eltern waren. Aber diese Frage mit einer vermeintlichen Schuld ihrer Vorfahren zu beantworten, erschien mir, wissenschaftlich betrachtet, unangemessen." George sagt, er sei sein Leben lang ein sehr kontrollierter Mensch geblieben. "Ich habe nie meinen Kopf verloren, meine Stimme erhoben. Ich habe immer gedacht, dass ich meine Aufgaben besser erledige, wenn ich mich kontrolliere. "
Auf der Suche nach dem Vater
Als er sich aber mit gerade einmal 18 Jahren freiwillig zum Kriegsdienst für seine damals neue Heimat USA entscheidet, folgt er einem Impuls: die Ungewissheit über das Schicksal seines Vaters. Sein Kampf gegen die Deutschen wird auch eine Suche. Das unterscheidet ihn von vielen seiner Kameraden.
"Als wir in der Nähe von München auf das Konzentrationslager von Kaufering stießen, waren meine Kameraden entsetzt. Sie waren angewidert von den Taten der Deutschen. Aber für mich entstand sofort eine Verbindung zu meinem Vater. Als wir die befreiten Menschen trafen, hatte ich immer die Hoffnung, meinen Vater wiederzusehen."
Das KZ Kaufering bestand aus elf verschiedenen Lagern. Die Nazis verschleppten 23.000 Menschen in die bayerische Provinz. Die meisten von ihnen waren osteuropäische Juden. Sie mussten Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie leisten. Am Ende sollten sie alle ermordet werden. Vernichtung durch Arbeit, nannte man das.
Als George Leitmann im April 1945 das befreite Lager betritt, eröffnet sich ihm eine Welt aus Dantes Inferno, mit diesen Worten verglich ein Überlebender das KZ mit der Hölle. Leitmann erinnert sich: "Überall lagen Leichen. Viele von ihnen kokelten noch, weil die Deutschen versucht hatten, sie zu verbrennen. Aber weil die Menschen nur noch Haut und Knochen waren, brannten sie nicht." Bis heute reißen ihn diese Bilder nachts aus dem Schlaf.
"Kälte und Rücksichtslosigkeit fallen auf uns alle zurück"
Heute gibt es einen Verein, der auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers eine Gedenkstätte betreibt, er nennt sich "Europäische Holocaustgedenkstätte Stiftung e.V." George Leitmann ist Ehrenmitglied. Am 27. April 2025 versammeln sich zahlreiche Gäste zum 80. Jahrestag der Befreiung. George kann nicht mehr dabei sein, der Weg aus Kalifornien wäre für ihn zu weit und zu beschwerlich.
Die Gedenkfeier ist geprägt von der Trauer über die Toten. Aber auch von der Sorge über die Zukunft: Aufstieg der rechtsextremen AfD in Deutschland, Aufstieg Donald Trumps in den USA, der russische Angriffskrieg in der Ukraine.
Das Gespenst des Faschismus ist zurück - die Macht der Stärkeren, wie der Wiener Historiker Florian Wenninger in einer Rede kritisiert: "Elon Musk hält Empathie überhaupt für die größte Schwäche der westlichen Zivilisation. Dem zum Trotz heißt es fest bleiben. Wenn soziales Verhalten, wenn Gerechtigkeitsgefühl, wenn Mitleid gezielt angegriffen werden, dann ist doch im Umkehrschluss völlig klar, dass Kälte und Rücksichtslosigkeit auf uns alle zurück fallen können, uns alle bedrohen."
Auch George Leitmann treibt die aktuelle Politik um, beunruhigt ihn. "Ein Mann wie Donald Trump kann Präsident werden. Das ist erstaunlich. Die Tatsache, dass große Teile der Gesellschaft faschistische Gedanken unterstützen, ist verstörend. Bestimmten Menschengruppen die Schuld für etwas zu geben, hat schon immer für Unglück gesorgt."
Im Mai 2025 wird George Leitmann 100 Jahre alt. Er habe, bei allem Schweren, ein gutes Leben gehabt, erzählt er. Er konnte die Welt bereisen, eine Familie gründen und spannende Menschen kennenlernen. Das hohe Alter ist auch eine Last. "Versuch nicht so alt zu werden", sagt er mit erhobenem Zeigefinger. "Das ist kein Spaß - und das meine ich ernst."
Erst viele Jahre nach Kriegsende hat er erfahren, wie sein Vater gestorben ist. In einem Lager in Jugoslawien haben die Deutschen ihm und hunderten anderen Häftlingen den Kopf weggeschossen. Weil er Jude war.
Bis heute stellt sich George Leitmann vor, wie sein Vater die letzten Minuten seines Lebens wohl erlebt hat. Jeden Tag denkt er daran.