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Politik

Ende einer Flucht nach Europa

Barbara Wesel Polen
18. November 2021

Immer wieder müssen Geflüchtete von örtlichen Helfern aus den Wäldern der polnischen Grenzregion aus Lebensgefahr gerettet werden. Viele verlässt nach wiederholten Pushbacks die Kraft - und die Nächte sind kalt.

Belarus Grenze zu Polen | Migranten | Zuspitzung der Lage
Fast unüberwindlich: Die Grenze zwischen Belarus und Polen, hier in der Region GrodnoBild: Henadz Zhinkov/Xinhua/imago images

Für Whalid aus der syrischen Stadt Homs endete die Flucht nach Europa hinter dem gefällten Stamm einer großen Kiefer. Er war seit Anfang der Woche im Bialowieza Forst mit einer Gruppe von anderen Flüchtlingen unterwegs. Dieser letzte große Urwald Europas ist besonders wild und unwegsam. Innerhalb von drei Tagen hatten die Syrer es geschafft, sich über die belarussische Grenze rund 25 Kilometer auf polnisches Gebiet vorzukämpfen und vor allem die gefährliche militärische Sperrzone zu durchqueren.

Umgestürzte Bäume, Unterholz, Sümpfe - das Vorankommen in pechschwarzer Nacht ist quälend langsam. Und tagsüber müssen sich die Migranten verstecken, denn hunderte von Polizisten und Soldaten sind hier ständig auf der Jagd nach den sogenannten "Grenzverletzern". Am Mittwochabend dann verließ Whalid die Kraft. In diesem Wettlauf nach Europa haben nur die Jungen und Starken eine Chance und er ist immerhin schon 44 Jahre alt.

Unwegsam und kalt: Die Migranten können sich im Bialowieza-Urwald nur nachts bewegenBild: Kacper Pempel/REUTERS

Die Gruppe zieht ohne ihn weiter und lässt ihn im Wald zurück. Wenigstens schicken sie eine GPS-Ortung an eine örtliche Hilfsorganisation, die seit September Tag und Nacht im Einsatz ist, um hier die Gestrandeten zu retten. Gegen 18 Uhr versammeln sich ein paar der Aktivisten auf einem Parkplatz im Wald. Aber die Suche ist schwierig, denn sie können keine Lampen benutzen, um die Polizei nicht aufmerksam zu machen. Und der Ortungsmarker gibt in dieser Wildnis nur einen ungefähren Hinweis.

Verzweifelter Hilferuf

Meter um Meter arbeiten sich die Helfer durch das Unterholz, um Whalids Versteck zu finden. Stunden vergehen und der Geflohene wird immer verzweifelter. Sein letzter Lebensfaden ist Laila (Name von der Red. geändert), eine der wichtigsten Helferinnen der Gruppe, weil sie arabisch spricht. Sie kann mit dem Handy Kontakt zu ihm herstellen: "Hilf mir bitte! Bitte… bitte!" fleht er am Telefon. "Kannst du noch zehn Minuten warten?", bittet Laila und erklärt, die Helfer seien unterwegs. "Bei Gott, hilf mir!", sagt er noch. Whalid ist am Ende, er hat längst kein Wasser mehr, kann kaum noch sprechen. 

Migranten verstecken sich im Wald, wie hier bei Hajnowka und sind für die Flüchtlingshelfer oft nur schwer zu findenBild: Kacper Pempel/REUTERS

"Die Helfer sind gleich bei dir, nur ein bisschen Geduld", tröstet Laila und spricht ein Gebet, "Sie haben mir getextet, nur ein bisschen Geduld noch." Über vier Stunden lang spricht sie dem verzweifelten Mann immer wieder Mut zu. "Sie kommen zu dir, denn sie müssen dir die Papiere zeigen. Nur keine Angst, sie haben alles dabei, auch Essen und Trinken. Nur noch zehn Minuten Geduld, ich weiß dass es schwer ist." Die Gruppe stellt über ihnen verbundene Anwälte sofort einen Antrag auf vorübergehenden Schutz in einer humanitären Notlage in Whalids Namen. Es ist die einzige Chance, dass die Polizei ihn nicht am nächsten Tag wieder zurück verfrachtet in den Wald auf der belarussischen Seite der Grenze.

Gegen 22 Uhr schließlich erreicht uns auf dem Parkplatz die Nachricht, dass Whalid gefunden ist. Laila, zwei örtliche Fotografen und das DW-Team arbeiten sich vor zum Fundort. Whalid hatte es am Ende noch geschafft, auf 50 Meter an eine Straße heranzukommen. Wir finden ihn hinter einen Baumstamm gekauert, nur mit seinem kleinen Rucksack, zitternd vor Kälte. Er kann sich keinen Schritt mehr bewegen. Die Helfer entscheiden, dass sie einen Krankenwagen rufen müssen. Der Geflüchtete ist völlig dehydriert, hat Herzschmerzen und braucht ärztliche Hilfe.

Rettung in letzter SekundeBild: Barbara Wesel/DW

Er bekommt Wasser, eine Thermodecke und tröstende Worte von Laila. Whalid wollte eigentlich nach Deutschland, wie die meisten seiner Schicksalsgenossen, aber seine Flucht ist jetzt hier zu Ende. Wenn ein Krankenwagen kommt, wird die Polizei informiert und sein weiteres Schicksal liegt in ihrer Hand.

Wir warten eine Weile vor der Tür der Notaufnahme des Ortskrankenhauses von Hajnowka, bis eine freundliche Schwester den Kopf heraussteckt: Wir sollten keine Angst haben, sie würden den Flüchtling mindestens bis zum nächsten Mittag da behalten. Das heißt, zumindest in dieser Nacht ist er sicher vor der Rückschiebung nach Belarus.

Es ist ruhiger geworden an der Grenze

Im September noch seien sie jede Nacht bis zu dreißigmal alarmiert worden, erzählt Pawel (Name von der Red. geändert), inzwischen kommen nur noch ein bis zwei Hilferufe. Die drakonischen Absperrungen und 15.000 Grenzwächter zeigen ihre Wirkung. Pawel ist der Profi unter den Helfern in der Region, war schon in Griechenland und an den Grenzen der Balkanländer während der großen Flüchtlingskrise 2015/16. Berichte von Pushbacks gab es schon länger, erklärt er, aus Griechenland, Bulgarien oder Kroatien. Aber so systematisch und offen, wie in Polen die nach internationalem Recht illegale Praxis derzeit angewandt wird, das sei schon eine Ausnahme.

Straßensperren und Absperrungen der Grenzwächter: Polizisten suchen Migranten bei HajnowkaBild: Barbara Wesel/DW

Glaubt Pawel, dass die Krise an der Grenze zwischen Belarus und Polen jetzt nach einer politischen Entschärfung bald zu Ende ist? Er ist davon noch nicht wirklich überzeugt. Zwar hat die Regierung in Minsk nach Interventionen der Bundeskanzlerin inzwischen einen Teil der Flüchtlinge in einer Lagerhalle und in umliegenden Hotels untergebracht. Und am Donnerstag traf der erste Evakuierungsflug aus Bagdad ein, um zunächst die irakischen Kurden zurück zu bringen, die aufgeben und Belarus wieder verlassen wollen. Unter ihnen sind viele Frauen mit kleinen Kindern, denn sie haben keine Chance mehr, an offiziellen Übergängen wie Kuznica die polnische Seite zu erreichen. 

Gruppen von Männern seien aber weiter entlang der 400 Kilometer langen Grenze unterwegs, glaubt der Helfer, auf der Suche nach einem Schlupfloch, und die Wälder von Hajnowka sind die ideale Gegend dafür. Im Dezember will die polnische Regierung einen 180 Kilometer langen High-Tech Grenzzaun gegen Belarus errichten, mit Drohnenüberwachung und Überwachungskameras. Aber auch dann bleiben noch rund zweihundert Kilometer unwegsames Gelände, wo sich auf sumpfigem Boden kein Zaun bauen lässt. Hier ist nicht einmal die polnische Grenzpolizei der größte Feind der Flüchtlinge, hier sind es das Winterwetter und die Natur.

Bewegende Rettungsaktionen

Pawel hat gelernt, seine Gefühle im Zaum zu halten, angesichts der Schicksale die er fast täglich erlebt. Aber die eine oder andere Rettungsaktion bleibt ihm doch besonders in Erinnerung. Ende September, als die ersten Flüchtenden ihren Weg über Belarus nahmen und die Grenze nach Polen noch ziemlich offen war, seien sie zu einem Platz im Wald gerufen worden, erzählt der Aktivist. An dem Platz fanden sie neun Frauen aus dem Kongo, ohne Schuhe und Jacken, nur mit Flipflops und in Sommerkleidung. "Sie verstanden überhaupt nicht wo sie waren, denn Menschenhändler hatten ihnen einen leichten Weg nach Europa versprochen".

Die Menschen warten darauf, die belarussisch-polnische Grenze zu überqueren - wie dieser Mann mit Kind bei GrodnoBild: Maxim Guchek/BelTA/AP/picture alliance

"Als wir ihnen erklärt haben, wie aussichtslos ihre Lage ist und dass neun Afrikanerinnen keine Chance haben, hier unentdeckt durch ein polnisches Grenzdorf  zu laufen, sind sie allesamt in Tränen ausgebrochen". Die Frauen waren untröstlich, als sie verstehen mussten, dass ihre Flucht im Wald von Hajnowka zu Ende war und die Tausende von Euro verloren waren, die sie an ihre Schlepper zahlen mussten.

Das einheimische Schleppergewerbe in der Region hat dabei inzwischen eine neue Einnahmequelle entdeckt. Gruppen von Flüchtlingen, die aus den Wäldern kommen, werden mit organsierten Sammeltransporten nach Norden an die deutsche Grenze gebracht, ein Service der erneut vierstellige Summen kostet. Sie fahren über die Waldwege und Pisten der ziemlich menschenleeren Gegend, denn an allen Ausfallstraßen der größeren Orte lauern die Kontrollposten der Polizei. Wie so viele  humanitäre Notlagen, hat auch diese umgehend ein neues Geschäftsmodell hervorgebracht.

DW-Reporterin zu Eskalation an Polens Grenze

03:15

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