Sylvia Kotting-Uhl, Atompolitikexpertin der Grünen, zeigt sich im DW-Interview erleichtert, dass die Energiekonzerne 24 Milliarden in einen Fonds für Atommüll einzahlen. Aber wird das Geld auch alle Kosten decken?
Anzeige
Deutsche Welle: Frau Kotting-Uhl, die Bundesregierung und die Energieversorger haben einen historischen Vertrag unterzeichnet: Die Verantwortung für die End- und Zwischenlagerung des Atommülls übernimmt nun der deutsche Staat. Die Energiekonzerne zahlen dafür ab 1. Juli rund 24 Milliarden Euro in einen neu errichteten Fonds zur Finanzierung des Atommülls.Sind Sie damit zufrieden?
Sylvia Kotting-Uhl: Allen Berechnungen nach sind diese 24 Milliarden durchaus viel Geld, und man kann damit eine Endlagerung und eine Endlagersuche in der gebotenen Sorgfalt durchführen. Insofern bin ich froh, dass diese 24 Milliarden für die Zwischen- und der Endlagerung zur Verfügung stehen.
Reicht das Geld?
Das weiß man heute nicht. Dieses Risiko tragen die Steuerzahler. Aber es ist schon eine Menge Geld.
Umweltverbände kritisieren das Abkommen. Sie sagen, dass sich die Bundesregierung über den Tisch hat ziehen lassen. Denn die Energiekonzerne haben einige Klagen gegen die Bundesregierung nicht zurückgenommen. Zum einen klagten sie erfolgreich gegen die Steuer auf die Brennelemente. Hier muss die Regierung nun rund sechs Milliarden Euro an die Energiekonzerne zurückzahlen. Und dann klagt noch der schwedische Konzern Vattenfall gegen den Atomausstieg vor einem internationalen Schiedsgericht, und auch hier geht es um Milliarden. Wurden hier Fehler beim Abkommen gemacht?
Ja. Ich teile die Kritik der Umweltverbände. Wir Grüne haben von Anfang an gefordert, dass alle Klagen vom Tisch müssen, weil der Staat sich sonst lächerlich macht bei dem Deal. Auf der einen Seite haben die Konzerne einen Vorteil, da sie nicht mehr in der Haftung sind. Anderseits hat der Staat das Geld für die Entsorgung gesichert. Sich während dieses Deals gleichzeitig auch noch vor Gericht zerren zu lassen, das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Für mich ist dies ein Armutszeugnis, dass die Bundesregierung hier nicht wirklich einen Schlussstrich verlangte.
Bei der Steuer für Brennelemente fordern wir, dass diese wieder eingeführt wird und verfassungsgemäß ist. Das Geld war damals gedacht, um die maroden alten Atomlager zu sanieren und die Energiekonzerne an den Kosten zu beteiligen.
Sind Sie trotz aller Kritik noch mit dem Abkommen zufrieden?
Es ging darum zu retten, was noch zu retten ist. Es bestand die Gefahr, dass am Ende die Steuerzahler für die gesamte Entsorgung aufkommen müssen, weil die Energiekonzerne entweder Insolvenz anmelden oder die lukrativen Teile ihrer Unternehmen so abspalten, dass diese nicht für den Atommüll zahlen müssen. Die Konzerne waren dabei, sich aus der finanziellen Verantwortung zu ziehen.
Deswegen war es notwendig, dass man diesen Bestrebungen einen Riegel vorschiebt und dieses Geld für die Entsorgung des Atommülls rettet. Es ist einerseits schmerzhaft, dass man die Konzerne aus der Nachhaftung entlässt. Auf der anderen Seite bin ich aber auch ganz froh, dass die Konzerne endgültig keinen Einfluss mehr auf den Betrieb der Zwischen- und Endlagerung haben. Das ist eine gute Botschaft, weil die Konzerne immer die Preise drücken wollten.
Deutschland steigt aus der Atomkraft aus und hat jetzt einen staatlichen Fonds für die Endlagerkosten. Auch in anderen Staaten sind Atomkraftwerke inzwischen sehr alt und die Kosten für die Endlagerung rücken näher. Welchen Rat geben Sie anderen Ländern?
Die frühzeitige Sicherung der Rückstellungen. Die Betreiber von Atomkraftwerken müssen dafür überall Geld zurücklegen. Dies ist leichter, wenn die Konzerne noch das Geld haben. Das Ende der Atomkraft kann schwer für die Energiekonzerne sein. Sie können rote Zahlen schreiben und in die Insolvenz gehen, wenn sie nicht auf eine andere Energieerzeugung umschwenken. Ich empfehle, frühzeitig die Gelder zu sichern.
Sylvia Kotting-Uhl ist atompolitische Sprecherin der Grünen Fraktion im Bundestag und Expertin für atomare Folgen im In- und Ausland.
Das Interview führte Gero Rueter.
Fukushima: Atomkraft ade?
Die Atomkatastrophe von Fukushima vor sechs Jahren hatte desaströse Folgen für viele Menschen, für Japan und für die Atomindustrie. Hat diese Risikotechnologie noch Zukunft oder ist sie überholt?
Bild: UN Photo/IAEA/Greg Webb
Viel mehr Radioaktivität als bei Atombomben
März 2011: Nach Erdbeben und Tsunami kommt es in drei Atomkraftwerken zur Kernschmelze und in vier zu Explosionen mit Wasserstoff. Ein solcher Super-GAU in Japan war für viele unvorstellbar. Beim Unfall wurde 500 Mal mehr radioaktives Cäsium-137 freigesetzt als durch die Atombombe von Hiroshima.
Bild: picture alliance/dpa/Abc Tv
Riesige Kosten und Verstrahlung
Die Folgen dieser Katastrophe sind immens. Nach Angaben der japanischen Regierung liegen die Kosten des Unglücks in Japan bei 21,5 Billionen Yen (etwa 177 Milliarden Euro). Hinzu kommen menschliches Leid und die Schäden durch Radioaktivität in anderen Ländern.
Bild: picture-alliance/dpa
Der Pazifik wird weiter verseucht
Jetzt gibt es neue Schutzhüllen um die Reaktoren und eine Eiswand im Untergrund. Eine Bergung der zerstörten Reaktoren und geschmolzenen Brennelemente ist aber nicht möglich und nicht in Sicht. Vor allem wird das Grundwasser radioaktiv verseucht. Ein Teil wird abgepumpt und in Tanks gelagert, ein anderer Teil fließt in den Pazifik.
Bild: Getty Images/C. Furlong
20 Mal häufiger Schilddrüsenkrebs
Japan hatte noch etwas Glück im Unglück. Der Wind wehte die Radioaktivität Richtung Meer. 50 Millionen Menschen im Großraum Tokio blieben so weitgehend verschont. Die Region Fukushima wurde jedoch stark verseucht. 200.000 Menschen verloren ihre Heimat. Bei Kindern fanden die Ärzte 20 Mal häufiger Schilddrüsenkrebs.
Bild: Reuters
Mehrheit gegen Atomkraft
Der Anteil von Atomkraft im japanischen Strommix lag vor der Katastrophe bei 30 Prozent, heute bei nur einem Prozent. Von ehemals 54 Reaktoren sind derzeit zwei am Netz. Die Regierung hält an der Atomkraft fest und möchte einige Reaktoren wieder hochfahren. Doch die betroffenen Regionen wehren sich bisher erfolgreich.
Bild: REUTERS
Atomindustrie in tiefer Krise
Sechs Jahre nach Fukushima stecken Atomkonzerne in einer tiefen Krise. In Japan, USA und Frankreich machen sie nur noch Verluste, neue Atomkraftwerke werden nicht mehr verkauft und Bauvorhaben aufgeschoben.
Bild: Reuters
Desaster statt Exportschlager
Große Hoffnungen setzte Frankreich in den Reaktor der neusten Generation, den europäischen Druckwasserreaktor (EPR). Er sollte sicher sein, ein Exportschlager und hier in Flamanville seit 2012 Strom produzieren. Doch jetzt geht er frühestens 2018 ans Netz und kostet über 10 Milliarden Euro - dreimal mehr als geplant.
Bild: Getty Images/AFP/C. Triballeau
Baut Großbritannien ein Atomkraftwerk?
Seit Jahren plant Großbritannien den Bau von zwei EPR-Reaktoren in Hinkley Point. Die Kosten werden auf 33 Milliarden Euro geschätzt, der Baustart soll 2019 sein. Die Zweifel mehren sich: Der Strom wäre viel teurer als aus Sonne und Wind und wäre ohne massive Subventionen nicht mehr konkurrenzfähig.
Bild: Getty Images/J. Tallis
Alte Atomkraftwerke zu verschenken
Atomkraftwerke waren mal lukrativ. Doch inzwischen sind viele Anlagen alt, anfällig, müssen repariert werden und machen Verluste. Der Schweizer Energiekonzerns Alpig wollte deshalb seine zwei Atomkraftwerke (33 und 38 Jahre alt) an den französischen Energieriesen Edf verschenken. Doch dieser lehnte ab.
Bild: picture-alliance/dpa/P. Seeger
Deutscher Atomausstieg kommt voran
Nach der Katastrophe von Fukushima beschloss Deutschland den Atomausstieg. Neun Reaktoren gingen bisher vom Netz, die letzten acht folgen bis 2022. Um die Kosten für Atommüll zu finanzieren, zahlen die Konzerne 23 Milliarden Euro in einen staatlichen Fonds. Beim ebenfalls teuren Rückbau der Kraftwerke hilft der Staat allerdings nicht.
Bild: picture-alliance/dpa/D. Ebener
Angst vor Atomunfall wächst
In der EU und der Schweiz sind noch 132 Reaktoren am Netz. Ausgelegt wurden die Kraftwerke für eine Betriebsdauer von 30 bis 35 Jahren. Im Durchschnitt sind sie jetzt 32 Jahre alt. Zunehmend werden Pannen und Sicherheitsmängel bekannt, den weiteren Betrieb halten viele für "Russisch-Roulette" und fordern die Abschaltung.
Bild: DW/G. Rueter
China treibt Atomkraft weiter voran
Während in der EU, Japan und Russland nach 2011 kein Spatenstich für ein neues Atomkraftwerk mehr erfolgte, sieht dies in China ganz anders aus. Wie kein anderes Land hält es an der Atomkraft fest und will Kohlestrom ersetzen. Doch noch sehr viel stärker als in Kernkraft investiert auch China in Wind- und Solarenergie.