Endlose Regentschaft: Vogue-Chefin Anna Wintour
1. November 2024Bei den großen Modeereignissen sitzt sie stets in der ersten Reihe - eine Frau mit Sonnenbrille und perfekt geschnittenem Bob. Chefredakteurin Anna Wintour hat bei der US-amerikanischen Zeitschrift das uneingeschränkte Sagen und ist inzwischen auch verantwortlich für die Inhalte aller weiteren Zeitschriften des Condé Nast-Verlags.
Am 3. November wird sie nun 75 Jahre alt, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sie irgendeinen Gedanken an den Ruhestand verschwendet. Man kann sie getrost als eine der einflussreichsten Frauen der Modebranche bezeichnen, nicht nur in den USA, sondern weltweit. Doch es gibt auch kritische Stimmen.
So wird beispielsweise viel darüber spekuliert, ob Anna Wintour insgeheim Vorbild für die unsympathischen Titelheldin in der bissigen Komödie "Der Teufel trägt Prada" aus dem Jahr 2006 ist. In dem Film terrorisiert eine skrupellose Modechefin, gespielt von Meryl Streep, ihre Angestellten. Doch unabhängig von allen Spekulationen über die private Seite der Anna Wintour: Unbestreitbar ist, dass sie als inoffizielle Königin der Modewelt eben diese geprägt hat.
Geboren wurde Wintour 1949 in London als Tochter einer wohlhabenden Familie. Ihr Vater war Redakteur der Londoner Zeitung "Evening Standard" und verhalf ihr im Alter von 20 Jahren zu ihrem ersten Job als Modeassistentin bei der Zeitschrift "Harpers & Queen". Später zog sie mit ihrem damaligen Partner nach New York City und arbeitete sich bei verschiedenen Publikationen nach und nach auf der Karriereleiter nach oben. 1988 wurde ihr schließlich die Stelle der Chefredakteurin bei der US-amerikanischen Vogue angeboten, die sie noch heute innehat.
Friedländer - das wohl berühmteste Titelbild?
Wintours erste Herausforderung war, die Werbeeinnahmen der Zeitschrift nicht an das damals neue Konkurrenz-Magazin "Elle" zu verlieren. Es gelang ihr, der "Vogue" eine eigene Nische zu schaffen und sich damit an die Spitze zu setzen. Sie entschied, dass auf dem Cover fortan nicht mehr nur Models abgebildet werden sollten, sondern auch prominente Frauen aus der Politik und aus Hollywood, darunter Hillary Clinton und Angelina Jolie.
Dieses Vorgehen wurde später noch erweitert: Inzwischen findet man auf den Titelseiten der Vogue auch Männer und Aktivistinnen und Aktivisten, darunter die Transgender-Aktivistin für LGBTQ+-Rechte, Ariel Nicholson. Anfang dieses Jahres war auf dem Cover der deutschen Vogue die 102-jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer zu sehen.
Wintour half der Muttergesellschaft des Magazins - dem Verlag Condé Nast - dabei, eine Reihe von Spin-off-Magazinen auf den Markt zu bringen, darunter die "Teen Vogue", die 1993 in die Regale kam. Sie machte sich zudem einen Namen damit, die Vogue mit einer Reihe hochkarätiger Veranstaltungen in Manhattan in Verbindung zu bringen. So organisierte sie u.a. die berühmte Met Gala (eine Benefizveranstaltung für das Metropolitan Museum of Art, Anm. der Red.) als Event mit prominenten Gesichtern, quasi als Antwort der Ostküste auf die Oscars. Wintour hat ein besonderes Händchen dafür, die Modewelt und Hollywood zu verschmelzen und Designer und neuen Marken bekannt zu machen.
Internationale Ausgaben der Vogue
Die Vogue ist längst weltweit unterwegs. Die US-amerikanischen Originalausgabe wurde erstmals 1892 veröffentlicht, die britische Ausgabe folgte im Jahr 1916. Derzeit gibt es über 28 internationale Ausgaben der Vogue - eine Expansion, die auch die globale Modeszene geprägt hat.
Auch hier zeigt sich Wintours Einfluss: Sie hat maßgeblich mitentschieden, wie die Zeitschriften in den jeweiligen Ländern arbeiten. Die Einführung von Vogue Africa im Jahr 2021 beispielsweise hat dazu beigetragen, afrikanische Designer ins internationale Rampenlicht zu rücken und gleichzeitig die afrikanische Kultur zu feiern. 2007 wurde die Vogue India unter der persönlichen Leitung von Wintour ins Leben gerufen. Sie hat dazu beigetragen, Indien als wichtigen Akteur in der Modeindustrie zu positionieren, indem sie die Verschmelzung von traditioneller indischer Kleidung mit zeitgenössischen Stilen fördert.
Kritikpunkt Diversität
Neben aller Anerkennung gibt es aber auch klare Kritikpunkte. So wurde der US-amerikanischen "Vogue" oft vorgeworfen, dass People of Color unterrepräsentiert seien. Die Zeitschrift setze sich zu wenig dafür ein, Diversität und kulturelle Vielfalt in der Modewelt zu fördern. Tatsächlich hat sich die "Vogue" in den letzten Jahren verstärkt bemüht, schwarze Models wie Rihanna auf das Cover zu bringen. Wintour selbst hat eine Erklärung zur Unterstützung der Black Lives Matter-Bewegung abgegeben. Doch weiterhin sind Kritiker der Meinung, dass noch mehr getan werden könnte.
In einem Artikel der New York Times aus dem Jahr 2020 über den Verlag Condé Nast wurden die Erfahrungen ehemaliger schwarzer Mitarbeitenden beschrieben, die von der Ignoranz ihrer "weißen Chefs" erzählten, wenn es darum ging, über schwarze Kultur zu berichten. Auch im Arbeitsalltag würden sie häufig mit stereotypen Wahrnehmungen konfrontiert.
Die Kritik beschränkt sich dabei nicht nur auf das US-Magazin. Anna Wintour ist auch für die internationalen Inhalte verantwortlich. 2022 geriet ein Cover der britischen Vogue in Kritik, auf dem neun Models aus Afrika zu sehen waren. Der Vorwurf: die gezeigten Models verträten westliche Schönheitsideale und fetischisierten das Schwarze. Die Frauen trugen westlich anmutende Frisuren, und ihre Haut war angeblich so bearbeitet, dass sie dunkler wirkte.
Es scheint so, als ob die Modeindustrie als Ganzes noch einen weiten Weg vor sich. Anna Wintour hat als starke Redaktionsleiterin und geschäftskundige Führungskraft vieles in Bewegung gebracht. Noch sitzt sie fest im Sattel, aber irgendwann übernimmt die nächste Führungsgeneration die Zügel. Es bleibt abzuwarten, welche neue Perspektiven diese dann in der Vogue einbringen wird.
Adaption aus dem Englischen: Petra Lambeck