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Entführt und erniedrigt: Alawitische Frauen in Syrien

9. Juli 2025

Erpressungen und religiöser Hass: Mehrere Dutzend alawitische Frauen gelten in Syrien als "vermisst". Dahinter stecken offenbar politische wie kriminelle Motive und Strukturen. Die DW hat mit Betroffenen gesprochen.

Eine Alawitin sucht im März 2025 auf der russischen Luftwaffenbasis Hmeimim Schutz vor den gegen ihre Gemeinschaft gerichteten gewaltsamen Ausschreitungen
Eine Alawitin sucht im März 2025 auf der russischen Luftwaffenbasis Hmeimim Schutz vor gewaltsamen Ausschreitungen gegen Angehörige ihrer KonfessionBild: Stringer/REUTERS

Abgemagert, mit Narben im Gesicht, rasiertem Haar und ohne Augenbrauen blickt Nora* erschöpft in die Kamera. Auf ihrem Schoß ihr Baby, von dem sie bis kurz zuvor gewaltsam getrennt war. Das erste Bild nach ihrer Freilassung verbreitete sich rasch in den sozialen Medien - Sinnbild eines Traumas, das in diesen Wochen viele Syrerinnen und Syrer erschüttert: Frauen aus den Reihen der alawitischen Glaubensgemeinschaft geraten ins Visier brutaler Entführer. So wie Nora, die inzwischen ihre Spuren bestmöglich verwischt und das Land verlassen hat.

"Täglich beschimpft und geschlagen"

Fast einen Monat lang war Nora in einem Keller gefangen, wo sie laut eigener Auskunft psychisch und körperlich misshandelt wurde. Die junge Mutter war mit ihrem elf Monate alten Kind nahe der Küstenstadt Dschabla unterwegs zu einem Hilfsgüterzentrum, als sie von vermummten Männern in einem Fahrzeug mit Kennzeichen aus Idlib angehalten wurde. Sie fragten nach ihrer Herkunft. Als sie sagte, sie sei Alawitin, sei sie brutal in das Auto gezerrt worden. Zudem hätten ihr die Männer bei der Entführung die Augen verbunden, erzählt Nora.

"Ich wurde täglich beschimpft und so heftig geschlagen, dass ich mehrfach das Bewusstsein verlor", berichtet sie im Interview mit der DW. In der Zeit ihrer Gefangenschaft habe man ihr das Baby weggenommen, zudem sollte sie ein Dokument unterzeichnen - einen Heiratsvertrag. "Ich habe mich geweigert. Ich bin verheiratet. Danach wurde ich noch brutaler behandelt", so Nora.

Fotos der Misshandlungen wurden ihrer Familie geschickt - als Druckmittel. Gegen ein hohes Lösegeld kam Nora schließlich frei, berichtet sie. Heute lebt sie im Ausland, in Sicherheit, und wird wegen schwerer gynäkologischer Beschwerden medizinisch behandelt.

Ein bei Ausschreitungen gegen Alawiten zerstörtes Haus in Dschabla, West-Syrien, März 2025Bild: Stringer/REUTERS

Erniedrigung mit System

Noras Geschichte ist kein Einzelfall. Auch die Nachrichtenagentur Reuters und mehrere arabische und internationale Medien berichten über Entführungen und Erpressungen alawitischer Frauen. Seit Jahresbeginn seien in Syrien über 40 Frauen als vermisst gemeldet worden, sagt der Menschenrechtsaktivist Bassel Younus im DW-Gespräch. Von Schweden aus dokumentiert er mithilfe eines Netzwerks in Syrien systematisch Menschenrechtsverletzungen. "Die überwältigende Mehrheit der Entführten gehört - wie Nora - der alawitischen Gemeinschaft an", so Younus. 

Ins Visier geraten damit Frauen jener religiösen Minderheit, aus der auch der gestürzte Diktator Baschar al Assad stammt, und die von radikalen Islamisten als "abtrünnig" angesehen wird. Berichte über gewaltsame Angriffe auf Alawiten als angebliche "Assad-Unterstützter" durch radikale sunnitische Kräfte haben seit Assads Sturz stark zugenommen. 

Vor allem in den letzten Monaten stehen Alawiten in Syrien unter erheblichem, oft lebensbedrohlichen Druck. Im März war es zu blutigen Übergriffen an Alawiten mit mehreren hundert Toten gekommen. Verschiedene Medien berichten, zumindest Teile der marodierenden Truppen hätten Verbindungen zum syrischen Innenministerium. Interims-Präsident Ahmed al-Scharaa hat eine Aufklärungskommission eingesetzt. Deren Ergebnisse liegen aber noch nicht vor. Doch unter den syrischen Minderheiten, auch den Christen, wächst die Angst vor Gewalt, wie viele Alawiten sie bereits erleben mussten. 

Alawitische Frauen seien daher keine zufälligen Entführungsopfer, betont Menschenrechtler Younus. "Sie werden zum Symbol der Unterwerfung einer ganzen Gemeinschaft gemacht." In der Gefangenschaft, erinnert sich Nora, sei sie beschimpft worden: "Sie nannten uns Schweine und Kuffar - Ungläubige."

Auch die UN sind bereits mit gemeldeten Entführungsfällen befasst. Die unabhängige UN-Untersuchungskommission zu Syrien teilte auf DW-Anfrage mit, sie werde zeitnah einen Bericht zu den bisher dokumentierten Fällen vorlegen. Bereits Ende Juni bestätigte die Kommission mindestens sechs Entführungen alawitischer Frauen in Syrien. Kommissions-Chef Paulo Sérgio Pinheiro sprach vor dem UN-Menschenrechtsrat zudem von "glaubwürdigen Hinweisen" auf weitere Fälle. Die syrischen Übergangsbehörden hätten in einigen davon Ermittlungen aufgenommen. Auf eine DW-Anfrage zu diesem Thema wollte das syrische Innenministerium allerdings keine Antworten geben.

Hat eine Untersuchungskommission zur Gewalt gegen die Alawiten in Auftrag gegeben: der syrische Interimspräsident Ahmed al-Scharaa Bild: Moawia Atrash/dpa/picture alliance

 

Geldforderungen aus dem Ausland

Die DW hat im Zuge von mehrwöchigen Recherchen mit über einem Dutzend betroffener Familien und Frauen gesprochen. Menschenrechtsaktivisten und Beobachtungsstellen lieferten ergänzende Informationen. Doch viele Angehörige scheuen die Öffentlichkeit - aus Angst, Scham oder Unsicherheit.

Sami*, ein junger Mann aus einem Dorf nahe der west-syrischen Stadt Tartus, gehört zu den wenigen, die bereit sind, mit Medien zu sprechen. Wie er berichtet, verschwand seine 28-jährige Schwester Iman* spurlos, nachdem sie in die Stadt gefahren war. Bald darauf erhielt die Familie einen Anruf von einer ausländischen Nummer. Eine anonyme Stimme drohte: "Vergesst Iman. Sie wird nie zurückkehren."

Sami meldete den Fall der Polizei - doch dort habe man zunächst abgewiegelt und behauptet, in den meisten solcher Fälle seien die betroffenen Frauen in Wirklichkeit mit heimlichen Liebhabern durchgebrannt. Doch Tage später meldeten sich die Entführer erneut, erzählt Sami - diesmal mit einer konkreten Lösegeldforderung in fünfstelliger Höhe. Die Familie lieh sich das Geld und überwies es durch das sogenannte Hawala-System, das Transparenz und Nachverfolgbarkeit stark erschwert, in die Türkei.

Dokumente, die der DW vorliegen, zeigen: Die Empfänger waren Syrer mit Flüchtlingsstatus in der Türkei. Auch in einem weiteren Fall konnte die DW eine vergleichbare Zahlung verifizieren. Für Sami hat die Geldzahlung nichts gebracht. Nach der Überweisung brach der Kontakt ab. Von Iman fehlt bis heute jede Spur.

Erinnerung an jesidische Schicksale

Auch Maya*, 21, ebenfalls aus der Nähe von Tartus, wurde entführt - gemeinsam mit ihrer minderjährigen Schwester. Wie die junge Frau berichtet, waren beide im März auf dem Weg zum Einkaufen, als sie von maskierten bewaffneten Männern gestoppt wurden. "Sie fragten uns, ob wir Alawiten oder Sunniten seien. Als wir 'Alawiten' sagten, zerrten sie uns in einen Bus ohne Kennzeichen", erzählt sie der DW.

Mit verbundenen Augen wurden die Schwestern laut Mayas Erzählung stundenlang durch unbekanntes Terrain gefahren, dabei als "Ungläubige" und "Fuloul" - Überbleibsel des Assad-Systems - beschimpft. Die Entführer warfen ihnen vor, mitverantwortlich zu sein für den Tod Hunderter Kämpfer aus dem Umfeld der islamistischen Übergangsregierung, erinnert sie sich.

In einem Keller wurden Maya und ihre Schwester schließlich festgehalten, so Maya weiter. "Wir hatten Angst, dass sie uns verkaufen." In sozialen Medien und einzelnen Medienberichten wird tatsächlich bereits darüber spekuliert, ob alawitische Frauen ein ähnliches Schicksal drohen könnte wie den Jesidinnen, die 2014 von der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) versklavt wurden.

Immerhin hat die syrische Übergangsregierung auch radikal-islamistische Gruppierungen integriert, deren Kommandeure in der Vergangenheit mit Menschenhandel in Verbindung gebracht wurden, etwa General Ahmad Ihsan Fayyad al-Hayes, den die USA der früheren Mitwirkung am Handel mit versklavten Jesidinnen verdächtigen.

Bassam Alahmad, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation "Syrians for Truth & Justice", erklärt im DW-Interview: "Wir haben bislang keine Beweise dafür, dass alawitische Frauen, wie damals die Jesidinnen, systematisch versklavt wurden." Besorgniserregend sei aber, dass bei Entführungen und Morden zunehmend die religiöse Zugehörigkeit eine Rolle spiele. "Alawitische Frauen werden heute gezielt wegen ihrer Religion angegriffen - darin liegt eine Parallele zu den Jesidinnen."

Zudem, so Alahmad, werde die alawitische Bevölkerung pauschal für die Verbrechen des Assad-Regimes verantwortlich gemacht. "Das ist der Kern des Problems."

Maya und ihre Schwester kamen schließlich frei. Warum, bleibt unklar. Nach zwei Monaten wurden sie - verschleiert, verängstigt und verstört - an ihre Familie übergeben. Sie überlebten. Andere Frauen bleiben verschwunden.

*Namen zum Schutz der Interviewpartner von der Redaktion geändert.

Flüchtlinge aus Syrien ohne Hilfe im Libanon

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