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KriminalitätÄthiopien

Entführungswelle: Sicherheitskrise erschüttert Äthiopien

Seyoum Getu Hailu
8. August 2024

In Äthiopien haben Bewaffnete mehr als 160 Studenten in ihre Gewalt gebracht und fordern Lösegeld. Entführungen haben in dem afrikanischen Land eine neue Dimension erreicht. Die Regierung scheint überfordert.

Hände in Hemdsärmeln sind mit einem dicken Seil zusammengebunden
In Äthiopien wurden vor einem Monat 167 Studierende entführt (Symbolbild)Bild: Depositphotos/IMAGO

Dieser Fall wirft ein Schlaglicht auf die Sicherheitslage in Äthiopien: Bewaffnete Männer haben mindestens 167 Studierende in ihre Gewalt gebracht, die in drei Bussen von ihrer Universität Debark im Norden des Landes in Richtung der Hauptstadt Addis Abeba unterwegs waren. Von dort wollten sie zu Familienbesuchen über die Sommerferien in ihre jeweiligen Heimatregionen reisen.

Wie die DW erfuhr, stellten sich die Täter offenbar den Bussen gut 150 Kilometer vor ihrem Ziel in den Weg. Die bewaffneten Männer zwangen die Gefangenen zu einer Reise in ein abgelegenes ländliches Gebiet, in dem die Rebellengruppe Oromo Liberation Army (OLA) operieren soll. Die OLA kämpft nach eigenen Angaben für die "Selbstbestimmung" der Oromo, der größten ethnischen Gruppe in Äthiopien. Das Parlament des ostafrikanischen Vielvölkerstaats stuft sie als terroristische Gruppe ein.

Das Repräsentantenhaus in Addis Abeba - das Parlament betrachtet die Oromo Liberation Army als TerrororganisationBild: Solomon Muchie/DW

Zwei Tage nach der Entführung verlangten die Entführer Lösegeld von Angehörigen. "Der Anruf meiner Schwester wurde für eine Weile unterbrochen. Aber einige Zeit später rief mich der Entführer selbst an und verlangte eine halbe Million Äthiopische Birr (nach aktuellem Kurs etwa 6.000 Euro) als Lösegeld", sagte die Schwester der entführten Studentin gegenüber der DW.

Ein anderer Angehöriger schilderte der DW einen Anruf drei Tage nach dem Verschwinden seiner Schwester: "Die Entführer verlangten 700.000 Birr Lösegeld (knapp 8.000 Euro). Wir als Familie können es uns niemals leisten, das zu zahlen", sagte der Angehörige der DW.

Freigelassen - oder doch nicht?

Eine Woche nach der Entführung der Studenten Anfang Juli gab es ein offizielles Statement, das hoffen ließ. Der Sprecher der Landesregierung der bevölkerungsreichsten Provinz Oromia, Hailu Adugna, sagte: "Von 167 Studenten, die von der Debark-Universität nach Addis Abeba fuhren, konnten wir 160 freibekommen und versuchen immer noch, die restlichen sieben Studenten zu befreien." Er machte die OLA-Separatisten für die Entführungen verantwortlich.

Doch die Familien der entführten Studenten stellen den Fall völlig anders dar: Noch immer befänden sich ihre Studentenfamilien in der Hand der Entführer und fordern ständig Lösegeld, sagen sie. Der Bruder, mit dem die DW sprach, sagte: "Wir haben nichts Konkretes über die von der Regierung veröffentlichte Erklärung erfahren. Wo sind also die freigelassenen Studenten, einschließlich meiner Schwester?"

Einigen Entführten ist angeblich tatsächlich die Flucht gelungen. Doch die Familien, mit denen die DW sprach, sagten, sie hätten nach einem Monat noch immer keine greifbaren Informationen über den Verbleib ihrer Angehörigen.

Hotspot Oromia

Die Region Oromia ist seit Jahren ein Hotspot für Entführungen zur Erpressung von Lösegeld - sie sind inzwischen alltäglich geworden. Die Entführungen finden nicht weit von Addis Abeba statt, da sich der Aufstand der OLA auf neue Gebiete ausbreitet. Opfer werden scheinbar willkürlich ausgewählt. Immer wieder trifft es auch Arbeiter aus Zement- oder Zuckerfabriken, Beamte oder örtliche Bauern.

Der äthiopische Bundesstaat Oromia ist immer wieder Schauplatz von EntführungenBild: Seyoum Getu/DW

Im September 2023 wurden sechs Mitarbeiter der äthiopischen Elektrizitätsgesellschaft bei Arbeiten am Geothermie-Kraftwerk Aluto Langano entführt; die Entführer verlangten Lösegelder in Höhe von insgesamt 60 Millionen Birr (rund 684.000 Euro). Der Sprecher von Ethiopian Electric Power, Moges Mekonnen, sagte damals der DW, das Unternehmen tue "sein Bestes, um die Arbeiter auf friedliche Weise freizubekommen".

Nicht nur in Oromia sind Entführer am Werk. Auch in den vom einstigen Bürgerkrieg (Ende 2022) gezeichneten Regionen Tigray und Amhara berichten Menschen von Entführungen, die mit der aktuellen politischen und sicherheitspolitischen Krise im Land zusammenhängen. Viele Äthiopier äußerten Bedenken, ob die Regierung von Premierminister Abiy Ahmed in der Lage ist, die Sicherheitskrise zu lösen.

Viele erwarten von Premierminister Abiy Ahmed, im Land für mehr Sicherheit zu sorgenBild: Office of Prime minister of Ethiopia

Immer wieder enden Entführungen tragisch: In der Stadt Kemise in der Region Amhara haben Unbekannte Mitte Juni einen jungen Mann entführt. Die Kidnapper forderten damals 2 Millionen Birr (23.000 Euro) Lösegeld. Der Vater des Vermissten handelte die Entführer auf ein Viertel der Summe herunter. Danach habe er nichts mehr von ihnen gehört, sagte er der DW: "Sie töteten meinen Sohn, nachdem sie das Lösegeld erhalten hatten." Die Leiche wurde zwei Tage später entdeckt.

In ihrem jüngsten Jahresbericht betonte die Äthiopische Menschenrechtskommission (EHRC), dass "Menschenrechtsverletzungen gegen Zivilisten im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten nach wie vor besorgniserregend sind und sich in der Tat weiter ausgebreitet haben", und fügte hinzu, dass die "zunehmende Entführung von Zivilisten, auch gegen Lösegeld" Anlass zu "großer Sorge" gebe.

Adaptiert aus dem Englischen von Martina Schwikowski