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Politik

Entsetzen nach Verbot von Memorial

28. Dezember 2021

Ein schwerer Schlag für die russische Gesellschaft und für ganz Europa: Mit diesen Worten reagieren Menschenrechtler, Stiftungen und Forschungsstätten auf die Entscheidung aus Moskau, Memorial International aufzulösen.

Protest vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofs in Moskau
Ein Memorial-Unterstützer vor dem Obersten Gerichtshof in Moskau Bild: Gavriil Grigorov/TASS/dpa/picture alliance

Es ist das Aus für eine der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen Russlands. Einhellig halten Menschenrechtler, Stiftungen und Wissenschaftler die Verfügung des Obersten Gerichtshofs in Moskau, Memorial International aufzulösen, für ganz klar politisch motiviert. Vertreter der Organisation selbst sprechen von einer "Geiselnahme" durch den Kreml. 

Die zuständige Richterin Alla Nasarowa begründete das Verbot von Memorial mit angeblichen Verstößen der Organisation gegen das sogenannte ausländische Agenten-Gesetz. Anders als das Gesetz es vorsehe, habe Memorial einige seiner Publikationen nicht mit einer speziellen Kennzeichnung versehen.

Memorial will gegen die Entscheidung angehen

Die Menschenrechtsorganisation will gegen das Urteil Berufung einlegen und auch das Verfassungsgericht anrufen. Wenn nötig, werde man vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen, so Leiter Jan Ratschinski. Memorial-Vorstandsmitglied Vera Ammer zeigt sich im Gespräch mit DW Russisch allerdings nicht sehr zuversichtlich, dass das Urteil in Russland aufgehoben wird. "Der Plan ist, mit einer der größten Nichtregierungsorganisationen, die sich für Menschenrechte in Russland einsetzt, Schluss zu machen. Und damit ein Signal in ganz Russland zu geben, dass diese Arbeit nicht gewünscht ist: weder Menschenrechtsarbeit noch die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit."

Memorial-Mitbegründerin Irina Scherbakowa sagt, das Vorgehen gegen ihre Organisation sei auch eine Botschaft an den Westen, die laute: "Wir machen mit der Zivilgesellschaft im Land, was wir wollen. Wir stecken ins Gefängnis, wen wir wollen. Wir lösen auf, wen wir wollen."

Vor dem Obersten Gericht in Moskau zeigen Unterstützer ihre Solidarität mit Memorial Bild: Gavriil Grigorov/TASS/dpa/picture alliance

Mit großer Bestürzung und Entsetzen reagieren auch deutsche Einrichtungen auf die Entscheidung aus Moskau. Das Auswärtige Amt in Berlin wertet das Vorgehen als Verstoß gegen internationale  Verpflichtungen zum Schutz grundlegender Bürgerrechte. "Berechtigter Kritik von Organisationen
wie Memorial sollte zugehört werden", sagt eine Sprecherin. Opfern von Unterdrückung und
Repression werde die Stimme entzogen.

"Letzte Bastion der demokratischen Zivilgesellschaft wird liquidiert"

"Mit Memo­rial - der ältes­ten Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Russ­lands - wird eine Insel des freien Denkens und eine der letzten Bas­tio­nen der demo­kra­ti­schen Zivil­ge­sell­schaft liqui­diert", erklärt die deutsche Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne, die vom Grünen-Politiker-Ehepaar Marieluise Beck und Ralf Fücks gegründet wurde. Ein solches Urteil sei undenk­bar ohne poli­ti­sche Weisung von ganz oben, machen die beiden Politiker deutlich und weisen darauf hin, gleichzeitig sei die Webseite von OWD Info gesperrt worden, einer popu­lä­ren Platt­form zur Infor­ma­tion über Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und poli­ti­sche Repres­sion in Russ­land. Auto­ri­täre Gleich­schal­tung nach innen und eine aggres­sive Politik nach außen gingen Hand in Hand, so Beck und Fücks.

"Moralisches Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft" 

Memorial sei das "moralische Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft", heißt es in einer Erklärung, die unter anderen vom Zentrum Liberale Moderne, von Amnesty International Deutschland, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung und dem deutschen PEN-Zentrum unterzeichnet wurde. Die Zwangsauflösung der Organisation sei ein "schwerer Schlag für die russische Gesellschaft, die Gesellschaften seiner Nachbarstaaten und für ganz Europa". Memorial stehe wie keine andere Organisation für ein offenes, menschenfreundliches, demokratisches Russland, "das die Versöhnung innerhalb der eigenen Gesellschaft und mit seinen Nachbarn sucht", heißt es in der gemeinsamen Erklärung weiter.

Mit dem Verbot der Organisation bekämpfe der russische Staat "die Auseinandersetzung mit der eigenen Unrechtsgeschichte", so die Unterzeichner. Er verletze zudem "die Grundwerte der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Russland selbst unterschrieben hat". Die Bundesregierung und die Europäische Union müssten "alles in ihren Möglichkeiten Stehende zum Erhalt der Arbeit und des Archivs von Memorial und zum Schutz seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter" tun.

Sorge auch um das Memorial-Archiv

Um das riesige Archiv vom Memorial International macht sich die Wissenschaft ebenfalls große Sorgen, auch wenn es nicht direkt dem Dachverband angegliedert ist. Inwieweit die Behörden die Auflösung der Menschenrechtsorganisation nutzten, um auch das Archiv einzuschränken, sei unklar - auch, weil es in Russland keine Rechtssicherheit mehr gebe, sagt die Chefredakteurin der Internetplattform Dekoder.org, Tamina Kutscher. Das Memorial-Archiv umfasst unter anderem 3,5 Millionen Biographien von Zeitzeugen.

se/fab (dw, afp, dpa, ap, kna, epd)

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