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Politik

Enttäuschte Liebe - Merkel und die Ostdeutschen

Kay-Alexander Scholz
15. November 2018

Die Kanzlerin reist nach Chemnitz, dort wo im Sommer kurz Ausnahmezustand herrschte. Kein einfacher Besuch, denn das Verhältnis der Ostdeutschen zur Kanzlerin ist gestört. Kay-Alexander Scholz berichtet.

Deutschland Wahlkampf CDU - Merkel
Bild: picture-alliance/dpa/R. Hirschberger

Berlin-Mitte im Jahr 2006: Der Kreisverband von Angela Merkels Partei, der CDU, ist voller junger Menschen mit hoffnungsvollen Gesichtern. Viele von ihnen sind noch in der DDR geboren, wuchsen im wiedervereinigten Deutschland auf. Sie nennen sich "Merkelianer". Die Endung -ianer wird in Deutschland für Anhänger einer bestimmten Denkrichtung verwendet, wie Hegelianer für die Anhänger des gleichnamigen Philosophen. Die "Merkelianer" wollen modernisieren - ihre Partei und das Land. In anderen ostdeutschen Städten wie Dresden, Cottbus oder Potsdam war damals ein ähnlicher Aufbruch zu spüren.

Für die Christdemokraten in den neuen Bundesländern ging es seit Merkels beginnender Kanzlerschaft im Jahr 2005 bergauf. Kämpfte die CDU bei der Bundestagswahl 2005 noch um den zweiten Platz, führte sie 2009 und konnte 2013 den Abstand zur Konkurrenz noch einmal vergrößern.

Zu Beginn ihrer Kanzlerschaft 2005 war Angela Merkels Herkunft oft ein Thema. Frau aus dem Osten und Kanzlerin? "Das schafft die nie!", unkten viele. Vielleicht war das ein Grund, warum Merkel in den folgenden 13 Jahren ihrer Kanzlerschaft so gut wie nie explizit über den Osten sprach.

Die "Merkelianer" hat das anfangs nicht gestört. Schließlich hatte "ihre" Kanzlerin erst in Deutschland und dann auch auf den großen Bühnen in Europa und der Welt Erfolg.

"Sie war Vorbild für viele im Osten"

"Merkel war für viele Frauen ein Vorbild, sie machte Mut", erzählt Ute, Rentnerin aus der Brandenburgischen Provinz, die ihren Nachnamen lieber nicht veröffentlichen will. Weil Merkel sich gegenüber den West-Männern durchgesetzt habe. Die West-Männer, mit denen viele älterer Ostdeutsche keine guten Erfahrungen nach der Wende gemacht hatten - Stichwort: Treuhand.

Ihre Ost-Sozialisation gab Merkel in diesem Punkt Selbstbewusstsein. Frauen im Osten waren selbstverständlicher als im Westen Chefinnen von Forschungsinstituten oder großen Betrieben. Nur Hausfrau zu sein, war im Osten - anders als im Westen - verpönt. In der Frauenfrage machte die Kanzlerin kein großes Brimborium und ging mit gutem Beispiel voran.

Merkel bei ihren Neujahrsansprachen von 2005 bis 2014 - was sich äußerlich änderte, war vor allem die Farbe ihres BlazersBild: picture-alliance/dpa

Merkel veränderte sich äußerlich und in ihrem Auftreten nicht wesentlich. Einfache Angestellte von Catering-Firmen am Rande von Staatsbesuchen schwärmten davon, wie "normal" die Kanzlerin geblieben sei; sie würde sich nicht so verstellen.

"Pragmatisch" nannten viele Kommentatoren das. Doch eigentlich war Merkel nur so, wie man halt in weiten Teilen des Ostens war: eher wortkarg bis schnippisch, protestantisch kühl und wenig auf Äußeres bedacht. Deshalb war sie für viele Ostdeutsche lange eine Identifikationsfigur: Sie zeigte, man muss sich nicht ganz dem Westen anpassen, um erfolgreich sein zu können. Offen ausgesprochen hat Merkel das nie, sie wurde trotzdem zunächst verstanden.

Enttäuschte Erwartungen

Vorbild hin oder her - es seien aber eben auch konkrete Erwartungen mit ihrer Kanzlerschaft verbunden gewesen, sagt Helmut, Utes Ehemann. Renten und Löhne sollten angeglichen werden!, doch das habe Merkel nicht getan. "Noch 2018 gibt es weniger Lohn und geringere Rentenansprüche im Osten", sagt der Brandenburger. 

Dass sie die eigenen Leute "vergessen" habe, sei auch die Hauptkritik im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise, erzählt Helmut weiter, der nach eigenen Angaben gern mit anderen über Politik rede. "Viele denken, Merkel gibt keinen Euro mehr aus für die eigenen Leute im Osten". Die Flüchtlinge aber bekämen alles - Handys, Waschmaschinen und mehr. Ostdeutsche dagegen, die im Niedriglohnsektor feststeckten oder auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind, könnten sich vieles nicht leisten.

Die Flüchtlingswelle im Herbst 2015 wurde so zum Wendepunkt im Verhältnis der Ostdeutschen zu ihrer Kanzlerin. Mehr noch, sagt Helmut. "Merkel wird inzwischen für alles, was schief oder nicht gut läuft, verantwortlich gemacht". Auch für mangelnde Schul-Planung, wofür nicht der Bund, sondern das Land und die Kommunen zuständig sind.


Was in Liebe begann, schlug um in Abneigung, viele sagen sogar Hass. Noch 2013 war Merkel bei drei von vier Ostdeutschen beliebt - und damit beliebter als im Westen. Aktuell ist es nicht mal mehr jeder Zweite, wie der" ARD-Deutschland-Trend" des Meinungsforschungsinstituts Infratest Dimap gemessen hat.

"Merkel muss weg!"

Sommer 2017: In Bitterfeld steht das Ehepaar Krüger am Rand einer CDU-Wahlkampfveranstaltung. Sie wirken bürgerlich-gutsituiert, sind älter als die typischen "Merkelianer". Sie waren auch Merkel-Fans, sind jetzt aber enttäuscht von einer CDU, die "zu links wurde". Nun tragen sie AfD-Fähnchen in der Hand. Die "Alternative für Deutschland" sei die neue CDU, sagen sie. Herr Krüger steht später auf einer Bank mit einer Trillerpfeife und streckt Merkel, wie beim Fußball-Spiel, eine Rote Karte entgegen.

Enttäuschter CDU-Wähler zeigt Angela Merkel in Bitterfeld die Rote KarteBild: Reuters/H. Hanschke

Der Bundestagswahlkampf im Sommer 2017 war voller Emotionen. Bitterfeld, aber auch andere Städte wie Finsterwalde, werden deshalb wohl in die Annalen der CDU-Geschichte eingehen. Merkel wurde ausgepfiffen, niedergebuht, so dass sie nicht mehr zu verstehen war. Regelrechter Hass lag in der Luft.

Dass Merkel trotzdem auch im Osten noch Anhänger hat, war in Bitterfeld exemplarisch zu erleben. "Das ist zu viel für mich", sagte ein junger Mann, offensichtlich Merkel-Fan, und brach in Tränen aus. "Das halte ich nicht aus, es ist hier so viel schon getan worden." Eine Gruppe junger Frauen stimmt dem zu. Es gebe ein regelrechtes Merkel-Mobbing.

Für dieses Mobbing hat vor allem die AfD gesorgt. Die Rechtspopulisten haben im Osten gezielt die Merkel-Enttäuschten angesprochen und "Merkel muss weg!" zu eine ihrer zentralen Forderungen gemacht.

Wahlen im Frühjahr 2019: AfD vor der CDU?

Zuletzt hat Merkel den Osten dann doch thematisiert. In den Jahren zuvor hat Merkel die Schattenseiten der deutsch-deutschen Wiedervereinigung vermieden. Jetzt sprach sie von den "28-jährigen Volkswirten aus dem Westen", die zu den Ostdeutschen sagten, "was man alles nicht kann". Sie sprach von der damaligen Massenarbeitslosigkeit und der neuen "Spaltung" durch die Migration und vom "Hass", den sie im Wahlkampf zu spüren bekommen habe.

Dieser Versöhnungsversuch aber kommt zu spät. Denn historisch gesehen bleibt: Das Ende Merkels hat in ihrer Heimat im Osten begonnen. "Der Machtverlust der Kanzlerin hat mit dem Aufstieg der AfD begonnen - und die AfD wiederum ist nichts anderes als die Fortsetzung des Pegida-Geschehens als politische Partei", sagte der Dresdner Politologe Werner J. Patzelt im DW-Interview. In der sächsischen Landeshauptstadt begannen Ende 2014 die islam- und fremdenfeindlichen Pegida-Demonstrationen. "Das alles hat die Kanzlerin sträflich unterschätzt und bezahlt nun eben mit einem nicht ganz nach ihren eigenen Wünschen gestalteten Ende ihrer Amtszeit dafür."

Kann Merkel ihr Verhältnis zu den Ostdeutschen wieder kitten? Bringt ihr Besuch in Chemnitz, der ostdeutschen Stadt, in der im Sommer zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, eine Wende?

Im kommenden Frühjahr sind in drei ostdeutschen Bundesländern Landtagswahlen. Die Ergebnisse gegen die CDU und für die AfD werden ein Indikator für das politische Kapitel Merkel und die Ostdeutschen sein. Aktuell liegt die AfD in mehreren Regionen vorn.