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GesellschaftTürkei

Erdbeben in der Türkei: Leben im Trümmerfeld

Aynur Tekin | Burak Ünveren
5. August 2023

Sechs Monate nach den verheerenden Erdbeben haben die Menschen im Südosten der Türkei weiterhin große Probleme - unter anderem mit der Wasserversorgung und der Hygiene. Eine Ortsbegehung.

Eine Straße in Hatay
Straße in HatayBild: Aynur Tekin/DW

Am 6. Februar erschütterten verheerende Erdbeben weite Teile der Südosttürkei sowie den Norden Syriens. In der Türkei kamen 60.000 Menschen ums Leben, etwa 125.000 wurden verletzt. 13 Städte waren von der Katastrophe betroffen. Eine davon war die südlichste türkische Stadt Hatay. Die Stimmung ist hier nach wie vor düster, doch das Leben geht weiter - in Zelten.

Die 65-jährige Leyla Seker gehört zu den Vielen, die bei der Katastrophe ihr Zuhause und ihre Familien verloren haben. Sie lebt heute alleine in einem Zelt wie tausende andere Menschen vor Ort. Sie hat ihr Zelt in der Gegend aufgestellt, wo sie früher gewohnt hat, neben etwa zehn weiteren Menschen auf einer Wiese. Sie trauert um ihre Mutter und ihre Schwester, die beim Erdbeben ums Leben kamen. "Aber nicht nur sie sind gestorben. Der Sohn meines Onkels ist mit seiner 15-köpfigen Familie aus dieser Welt gelöscht worden", so Seker.

Leyla Seker lebte früher hierBild: Aynur Tekin/DW

In Hatay stürzten auch historische Gebäude wie der ehemalige Parlamentssitz sowie eine knapp 1500 Jahre alte Moschee ein. Sie könne ihre Heimatstadt nicht mehr erkennen. "Das ist nicht mehr Hatay, sondern eine Geisterwelt", sagt sie mit Tränen in den Augen. Ihr Haus wurde von dem Erdbeben so stark beschädigt, dass es im vergangenen Monat abgerissen werden musste. Gelegentlich besucht sie die Ruinen ihres alten Zuhauses, um sich an die alten Tage zu erinnern.

Weiterhin schlechte Lebensbedingungen

Obwohl seit dem Erdbeben ein halbes Jahr vergangen ist, sind die Lebensbedingungen für viele Bewohner Hatays immer noch schlecht. Viele Menschen beklagen sich vor allem über die fehlende Wasserversorgung. "Es reicht langsam. Seit sechs Monaten gibt es keinen einzigen Tropfen Wasser. Manche haben ihre eigenen Brunnen, mit dem sie sich selbst versorgen können. Wir haben aber gar nichts. Hier ist nichts zu finden außer Krankheitserreger und Fliegen", sagt Leyla Seker. Das beschädigte Wasserversorgungssystem wurde immer noch nicht repariert. Menschen haben Zugang zum Wasser über zwei Kanäle: Entweder kaufen sie es im Supermarkt oder trinken sie das Wasser, das im Rahmen der Staatshilfen geliefert wird.

Als Diabetikerin könne sie die Lebensmittel nicht essen, die von der Stadtverwaltung verteilt werden, erzählt Seker. "In der Nähe ist auch kein Supermarkt. Ich koche mit meinem kleinen Campingkocher selbst, wenn die Nachbarn mir etwas vom Supermarkt mitbringen", erzählt Seker.

Der 48-jährige Rüstem Coklu ist Metallhandwerker und wurde nach dem Erdbeben arbeitslos. Er ist spezialisiert auf Metalldächer für Fertighäuser. Er hatte in der ersten Zeit nach dem Erdbeben keine Aufträge, da sich Menschen um ganz andere Probleme kümmern mussten, erzählt er. Er fing vor zwei Monaten wieder an zu arbeiten. Er ist zufrieden mit den Lebensmittelhilfen, aber beklagt sich darüber, dass er wegen der Hygieneprobleme, dem Insektenbefall und der Hitze schwierige Tage erlebe.

Das Leben in Hatay geht trotz allem weiterBild: Aynur Tekin/DW

Laut der städtischen Ärztekammer werden zurzeit in Antakya, dem Herzen von Hatay, nur zehn Prozent der Menschen mit Wasser versorgt. Der Mangel an Leitungswasser und die mangelnde Hygiene erhöhen außerdem das Risiko für Epidemien. Durchfallerkrankungen kommen häufig vor, berichten die Einheimischen.

Ein neues Zuhause für alle?

Das Erdbeben hat das ehemalige Wohnhaus des Handwerkers Coklu schwer beschädigt. Nun steht er daneben und schaut hilflos den Arbeitsmaschinen zu, die sein Zuhause abreißen, in dem er 20 Jahre lang lebte. Doch er hat sich mit der Situation abgefunden; er ruft seinen Sohn an, um ihm zu zeigen, wie das Gebäude eingerissen wird. Sein Sohn verließ nach dem Erdbeben die Stadt und zog nach Antalya.

Nach Angaben der Kammer der Stadtplaner in Hatay wurden in der Stadt 600.000 Menschen obdachlos. Sie sind entweder in eine andere Stadt gezogen oder leben heute in einem Zelt. Vor der Katastrophe lebten in Hatay etwa 1,6 Millionen Menschen. Der Staat kündigte an, neue Wohnhäuser für die Betroffenen zu bauen. Umweltminister Mehmet Özhaseki sagte, man wolle in Hatay etwa 255.000 neue Wohnungen zur Verfügung stellen. Laut offiziellen Angaben werden zurzeit mehr als 3000 Wohnhäuser gebaut und die ersten Wohnungen sollen im Dezember bewohnbar sein.

Rüstem Coklu ist einer der vielen Menschen, die in Zelten lebenBild: Aynur Tekin/DW

60 Prozent der Kosten sollen vom Staat und 40 Prozent von den Betroffenen bezahlt werden. Über 20 Jahre soll der Kredit abbezahlt werden können. Rüstem Coklu ist nicht wirklich zufrieden mit den Plänen des Staats. Er ist jedoch bereit, das Angebot in Anspruch zu nehmen. Besonders der 20-jährige Kreditplan habe ihn enttäuscht. "Wir werden uns aber damit abfinden. Der Staat hätte von uns eigentlich nichts fordern sollen. Das hätte ich vom Staat erwartet", so Coklu. Leyla Seker interessiert sich nicht für das Angebot. Sie ist nicht in der Lage, dafür zu bezahlen. "Ich habe weder Kraft noch restliche Lebenszeit", so Seker.

Experten hinterfragen die Umsetzbarkeit der Pläne. Serkan Koc von der Kammer der Stadtplaner in Hatay betont, der Staat müsse mehr in die zerstörte Infrastruktur investieren - unter anderem damit Menschen wieder Zugang zu Wasser, Strom und Internet haben. Er weist auf die derzeitige Popularität des irregulären Wohnungsbaus hin: Überall finde man Wohnhäuser, für die es keine Baugenehmigung gebe. "Diese Häuser werden momentan gebaut wie verrückt. Eine Stadt ist ein lebender Organismus. Wenn der Staat das Grundbedürfnis der Menschen nach Unterkunft nicht befriedigen kann, dann müssen sich die Menschen selbst eine Lösung suchen", so Koc.

Bau neuer Wohnhäuser in HatayBild: Aynur Tekin/DW

Ruinen sind noch überall

Viele in der Stadt beklagten sich kurz nach der Katastrophe darüber, dass die Hilfe in der Stadt vergleichsweise zu spät ankam, was, so mutmaßten manche, an politischen Gründen liegen könnte: Hatay gilt als einer der kosmopolitischsten Orte der Türkei, in dem eine große alewitische Minderheit lebt. Viele warfen damals dem Staat vor, den alewitischen Gegenden keine ausreichende Hilfe geleistet zu haben. Dem Staat wurde damals auch Mitschuld an der Katastrophe gegeben. Er habe auf die Vorwarnungen der Wissenschaft nicht geachtet und nicht ausreichend Maßnahmen ergriffen.

Die Aufräumarbeiten sind noch in vollem GangeBild: Aynur Tekin/DW

Weiterhin herrscht Unklarheit über die etwa 15.000 Gebäude mit Schäden "mittlerer Stufe". Es ist unklar, ob sie abgerissen werden sollen oder nicht. Die Beseitigung der Ruinen soll erst Ende Dezember abgeschlossen sein.

Leyla Seker möchte weiterhin in ihrer ehemaligen Nachbarschaft wohnen bleiben, auch wenn es zwischen Trümmern ist. Sie habe 32 Jahre lang im Ausland gearbeitet, um für ihr Haus zu sparen - das vor einem Monat abgerissen wurde. "Ich möchte nicht zu irgendwelchen neuen Gegenden ziehen. Ich habe mir für mein Leben hier so viel Mühe gegeben. Alles, was ich auf dieser Welt hatte, war meine Wohnung."

Erdbebensichere Häuser durch künstliche Intelligenz

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Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.