Nach dem tödlichen Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion kommt es immer wieder zu starken Nachbeben, die genau so viel Schaden anrichten, wie die ursprüngliche Erschütterung.
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Die Türkei und Syrien kommen nicht zur Ruhe. Seit dem verheerenden Beben in den frühen Morgenstunden des 6. Februars erschüttern Nachbeben die Region. Bisher haben die beiden Staaten tausende Tote gemeldet. Fachleute gehen davon aus, dass die Opferzahl noch weiter steigt, zum einen, weil immer noch viele Menschen unter den Trümmern begraben liegen – aber auch, weil die Nachbeben bereits beschädigte Häuser zum Einsturz bringen.
Was ist ein Nachbeben?
Starke Erdbeben ziehen fast immer eine Serie kleinerer Erschütterungen nach sich: sogenannte Nachbeben. Sie sind generell in den ersten 48 Stunden nach dem Hauptbeben am stärksten und können sich Wochen oder, in einigen Fällen, sogar Jahre hinziehen.
Normalerweise liegt die Stärke eines Erdbebens rund ein Grad unter der des ursprünglichen Erdbebens. Wenn ein Erdbeben also eine Stärke von 7 auf der Richterskala hat, würden Seismologen und Seismologinnen Nachbeben mit einer Stärke von 6 erwarten.
"Das ist der Durschnitt, aber manchmal ist das auch gar nicht der Fall", sagt der Seismologe Roger Musson von der British Geological Survey im DW-Interview. "Manchmal kann ein Nachbeben stärker als das ursprüngliche Erdbeben sein. Als Seismologe muss man also immer auf Überraschungen vorbereitet sein, die die Erde für einen bereithält."
Ein Erdbeben gilt als Nachbeben und nicht als individuelles Beben, wenn es ein bis zwei Verwerfungslinien vom ursprünglichen Beben entfernt auftritt. An Verwerfungslinien treffen zwei tektonische Platten der Erdkruste aufeinander. Die Gegenden um diese Linien herum sind besonders erdbebengefährdet.
Generell kommt es zu Nachbeben, weil die tektonischen Platten der Erde sich nach einem Beben noch hin und her bewegen und erst langsam wieder zur Ruhe kommen.
In der Türkei und Syrien gab es seit dem Erdbeben am frühen Montagmorgen bereits mehr als 100 Nachbeben. Laut Musson treten Nachbeben bei sehr kleinen Beben nicht zwingend auf. Aber bei großen Beben wie dem in der türkisch-syrischen Grenzregion gehören sie quasi dazu.
Warum sind die Nachbeben dieses Mal so stark?
Das Beben der Stärke 7,8, das die Türkei und Syrien am Montagmorgen erschütterte, zog eine weitere Erschütterung mit einer Stärke von 7,5 nach sich – wesentlich stärker, als Nachbeben normalerweise sind.
Musson, der auch an der University of Edinburgh in Großbritannien forscht, sagt, das liegt daran, dass das Beben nicht an einer einzelnen Verwerfungslinie auftrat, sondern in der ost-anatolischen Verwerfungszone, in der mehrere kleinere Verwerfungslinien entlang einer Hauptlinie verlaufen.
Das Hauptbeben am Montag löste laut Musson einen "Schwarm" an Erdbeben aus, die entlang von "Neben-Verwerfungslinien" entstanden, und nicht – wie gewöhnliche Nachbeben – an der gleichen Verwerfungslinie wie das Hauptbeben.
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Wann treten Nachbeben auf? Und wie lange dauern sie an?
Das kommt auf die Stärke des ersten Erdbebens an. Die stärksten Nachbeben hören laut Musson normalerweise rund zwei Tage nach dem ursprünglichen Beben auf. Bei starken Beben ist es aber möglich, dass sie nur langsam an Intensität abnehmen und erst ein Jahr nach dem ersten Erdbeben vollkommen zum Erliegen kommen.
Forschungen haben gezeigt, dass es in extremen Fällen, wie zum Beispiel an der New Madrid Verwerfungslinie im US-Bundesstaat Missouri, noch Jahrhunderte nach einem Erdbeben zu kleinen Nachbeben kommen kann.
Wie hoch ist das Risiko weiterer starker Nachbeben in der Türkei und Syrien?
Das werden die kommenden Tage zeigen. Die "Aktivierung" der Verwerfungslinie, entlang derer das Nachbeben mit einer Stärke von 7,5 stattfand, könnte eigene Nachbeben auslösen. Es ist also noch nicht an der Zeit, durchzuatmen. Und selbst schwächere Nachbeben können großen Schaden anrichten. Eine kleine Erschütterung kann ausreichen, um Gebäude zum Einsturz zu bringen, die durch das ursprüngliche Beben destabilisiert wurden.
"Ein Nachbeben richtet oft Schaden an, der in keinem Verhältnis zur seiner Stärke steht, weil Gebäude bereits in einem schwächeren Zustand sind", sagt Musson. "Das ist ein Grund dafür, dass Sicherheitstrupps nach Erdbeben durch die Straßen gehen, einsturzgefährdete Gebäude markieren und die Menschen warnen, diese nicht mehr zu betreten."
Erdbeben in Türkei und Syrien: Hoffnung auf Überlebende treibt Helfer an
Das schwere Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet hat mehrere Tausend Gebäude zerstört. Unter den Trümmern suchen zahllose Helfer fieberhaft nach Überlebenden. Bilder lassen die Dramatik der Situation nur erahnen.
Bild: Umit Bektas/REUTERS
Im Schlaf überrascht
Dieses Wohnhaus in Diyarbakir ist eines von mehreren Tausend Gebäuden, die das Erdbeben der Stärke 7,8 im türkisch-syrischen Grenzgebiet zerstört hat. Die meisten Menschen überraschte die Katastrophe im Schlaf. Das Beben ereignete sich am Montag um 4.17 Uhr Ortszeit.
Bild: Omer Yasin Ergin/AA/picture alliance
Tausende Gebäude zerstört
Das Beben forderte zahlreiche Opfer - die Behörden sind noch damit beschäftigt, sich einen Überblick zu verschaffen. Klar ist: Mehrere Tausend Gebäude wurden zerstört - so wie dieses in Kahramanmaras in der mehrheitlich kurdisch besiedelten Stadt Diyarbakir.
Bild: Gokhan Cali/AA/picture alliance
Bergung unter schwierigsten Bedingungen
Wie hier in Adana durchsuchen unzählige zivile und offizielle Rettungskräfte eingestürzte Gebäude nach Verschütteten. Die Region wurde von mehr als 50 Nachbeben erschüttert. Der stärkste dieser Erdstöße mit einer Stärke von 7,5 ereignete sich am Montagmittag, als viele Bergungsarbeiten bereits im Gange waren.
Bild: IHA/AP Photo/picture alliance
Auch Nordsyrien betroffen
Auch die nordsyrische Provinz Idlib ist von dem Beben betroffen. Das Erdbeben vom Montag ist eines der verheerendsten in der Region seit Jahrzehnten, und es trifft Gebiete, die bereits durch den syrischen Bürgerkrieg schwer gezeichnet sind. Helfer in Aleppo graben "mit bloßen Händen" in den Trümmern nach Überlebenden, sagte eine Augenzeugin der DW.
Bild: Ghaith Alsayed/AP Photo/picture alliance
Im Krieg beschädigte und neue Häuser zerstört
"Die Menschen in Idlib sind aus ihren Häusern geströmt, sie waren in Panik. Kurz darauf sind die ersten Häuser eingestürzt, die bereits zuvor infolge russischer Luftangriffe nicht mehr in gutem Zustand waren. Aber auch neuere Gebäude sind eingestürzt. Ganze Familien sind noch unter den Verschütteten," berichtet ein Lokalreporter aus dem syrischen Sarmada nahe der türkischen Grenze der DW.
Bild: Omar Albam
Logistische Herausforderung in Syrien
"Die Infrastruktur ist beschädigt, die Straßen, die wir für die humanitäre Arbeit genutzt haben, sind zerstört. Wir müssen kreativ sein, um zu den Menschen zu gelangen.", beschreibt ein Verantwortlicher der UN die Situation in der Provinz Idlib. Die Regierung in Damaskus lässt offenbar Hilfsgüter weiterhin nur über einen Grenzübergang in die letzte nicht von ihr kontrollierte Region.
Bild: Omar Haj Kadour/AFP
Weißhelme im Einsatz
Die im syrischen Bürgerkrieg gegründeten Weißhelme, eine private Zivilschutzorganisation von Freiwilligen und bezahlten Helfern, beteiligen sich an den Bergungsarbeiten in den von Rebellen gehaltenen Gebieten im Nordwesten Syriens. Diese beiden Männer suchen in Sardana nach Überlebenden.
Bild: Ahmad al-Atrash/AFP
Historische Bauwerke zerstört
Auch Kulturschätze wurden bei dem Erdbeben zerstört. In der türkischen Provinz Maltaya wurde die berühmte Yeni Moschee aus dem 13. Jahrhundert schwer beschädigt. Ein Wintersturm erschwert in Teilen der betroffenen Gebiete die Rettungsarbeiten zusätzlich. Am Mittag bat die Türkei offiziell ihre NATO-Partner und die EU um Unterstützung bei den Rettungs- und Bergungsarbeiten.
Bild: Volkan Kasik/AA/picture alliance
Regionen brauchen Hilfe
Zahlreiche Länder - sogar die Ukraine - haben Hilfe angeboten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte gegenüber der Presse, Soforthilfe durch das THW sei veranlasst und die ersten Hilfslieferungen bereits auf dem Weg in die Katastrophenregion, darunter Notunterkünfte und Wasseraufbereitungsanlagen: "Wir dürfen nicht vergessen, dass die Witterungsverhältnisse dort sehr prekär sind", so Faeser.
Bild: Volkan Kasik/AA/picture alliance
Containerhafen in Flammen
Die türkische Hafenstadt Iskenderun wurde besonders schwer von den Beben getroffen. Tausende Container stürzten durch die Erschütterungen um und fingen teilweise Feuer, über der Stadt steht auch noch am Tag nach den Beben eine riesige Rauchsäule.
Bild: Serdar Ozsoy/Depo Photos via AP/picture alliance
Krankenhaus zerstört
Auch in den Trümmern des am Montag teilweise kollabierten Krankenhauses von Iskenderun laufen weiterhin Rettungsarbeiten, Helfer bergen weiterhin Überlebende aus den Trümmern.
Bild: Umit Bektas/REUTERS
Internationale Hilfe läuft an
Die Hilfsorganisation Roter Halbmond begann am Montag mit der Koordinierung von Hilfstransporten in die zerstörten Gebiete. Von einem Militärflughafen nahe der irakischen Hauptstadt Bagdad startet diese Maschine mit Hilfsgütern Richtung Syrien.
Bild: Ahmed Saad/REUTERS
Sammeln für die Betroffenen
Die internationale Anteilnahme ist groß - auch auf privater Ebene versuchen Menschen den Bedürftigen in den Krisengebieten zu helfen. Dieses türkische Kulturzentrum in Den Haag sammelt Materialspenden für die Betroffenen in der Türkei
Bild: Phil Nijhuis/AFP
Hilfe auch aus Deutschland
Mehrere Länder haben Such- und Rettungsspezialisten in die Region entsandt. Am Dienstag traf ein deutsches ISAR-Team (International Search and Rescue) im türkischen Gaziantep ein. Ziel der 42 Experten mit ihren sieben Spürhunden ist die stark beschädigte Stadt Kirikhan in der Nähe der türkisch-syrischen Grenze.
Bild: Piroschka van de Wouw/REUTERS
Katastrophe mit Ansage?
Die meisten Gebäude in der betroffenen Region waren für Beben dieser Stärke nicht ausgelegt - so wie diese Intensivstation des Krankenhauses in Iskenderun. Das Gebiet gilt seit langem als besonders erdbebengefährdet, türkische Geologen hatten die Regierung erst kürzlich vor den Gefahren gewarnt.