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PolitikAsien

Türkei-Beben: Unter die Trauer mischt sich Wut

Gunnar Köhne
12. Februar 2023

Inzwischen fragen sich viele Türken, wieso nicht mehr für die Sicherheit im Erdbebengebiet getan worden ist. Erinnerungen an das große Beben von 1999 werden wach. Für DW-Reporter Gunnar Köhne eine Art Déjà-vu.

Türkei Adiyaman | Trauer nach Erdbebenkatastrophe (10.02.2023)
Trauernde in AdiyamanBild: Onur Dogman/ZUMA Press/SOPA/picture alliance

Mit der Dunkelheit kommt die Apathie. Der Lärm der Baumaschinen verstummt, die verzweifelten  Rufe der Helfer hallen nur noch vereinzelt von den Trümmerbergen. Die Angehörigen starren, in Decken gehüllt, stumm vor sich hin.

Vier Tage nach dem verheerenden Beben schwindet ihre Zuversicht, dass ihre Liebsten noch lebend unter den Tonnen von Beton und verbogenem Stahl gefunden werden. Sie bleiben trotzdem vor ihren Lagerfeuern sitzen - die einzigen Lichter in der Finsternis, abgesehen von Autoscheinwerfern und den Notleuchten der Suchtrupps.

Erinnerungen an das Erdbeben von 1999

Eine gespenstische Szenerie, die sich genau so in der Türkei schon einmal in mein Gedächtnis eingebrannt hat. 1999 habe ich über die zwei schweren Erdbeben rund um das Marmarameer in der West-Türkei berichtet. Damals starben mehr als 17.000 Menschen. Dieses Mal könnten am Ende, so befürchten viele, zehn Mal so viele Menschenleben zu beklagen sein.

Nicht nur die Bilder gleichen sich: überforderte Helfer, die mit Spitzhacke, Vorschlaghammer oder auch nur mit bloßen Händen arbeiten, weil schweres Gerät fehlt. Menschen, die aus allen Landesteilen anreisen, um zu helfen - mit Lebensmitteln, Decken und Zelten. Rettungskräfte, die sich bis zur totalen Erschöpfung abmühen. Und immer wieder verzweifelte Menschen, die auch nach Tagen noch auf Hilfe warten.

Zerstörungen in AntakyaBild: Hussein Malla/AP/picture alliance

Ein älterer Herr sitzt in Antakya im äußersten Süden der Türkei auf einem Plastikstuhl vor einem völlig in sich zusammengefallenen Gebäude, das noch vor kurzen "Luxusapartments" beherbergt haben soll. Sein Bruder hatte vergangenes Jahr eines davon gekauft. Nun liegt er, vermutlich tot, unter den Trümmern dieses offensichtlich schlampig gebauten "Wohntraums". "Wir können tolle Häuser bauen, oder?", bemerkt der Mann bitter.

Kritik an der türkischen Regierung

Auch die Klagen der Betroffenen sind die gleichen wie vor fast 24 Jahren: Warum kommt der Staat uns nicht schneller zur Hilfe? Warum fallen selbst Neubauten wie Kartenhäuser zusammen? Ist die Einhaltung der - nach 1999 verschärften - Bauvorschriften nicht kontrolliert worden? Warum darf in einer  höchst erdbebengefährdeten Region wie der Südost-Türkei scheinbar unbegrenzt in die Höhe gebaut werden? Warum halten nicht einmal einige der vom Staat gebauten Krankenhäuser einem Beben stand?

DW-Reporter Gunnar KöhneBild: DW

In den von der AKP- Regierung fast vollständig kontrollierten Medien dürfen solche Fragen nicht gestellt werden, aber der Unmut der Bevölkerung ist überall zu hören. In der Stadt Adiyaman musste der türkische Verkehrsminister unter wüsten Beschimpfungen der Bürger das Weite suchen.

Hasan Aksungur, Vorsitzende der Bauingenieurskammer der Stadt Adana, in der ebenfalls elf Gebäude eingestürzt sind, sagte der DW, die Gesetze seien nicht Schuld: "Es geht bei der Frage, ob drei oder zehn Geschosse hoch gebaut wird, um viel Geld. Da wird dann das eine oder andere Auge zugedrückt." In der Stadt Kahramanmaras, etwa 70 Kilometer nördlich von Gaziantep, gehört das Gebäude der dortigen Ingenieurskammer zu den wenigen, die stehen geblieben ist.

Warnungen von Geologen nicht ernstgenommen

Immer wieder höre ich auch: Das war ein  Jahrhundertbeben, damit wäre jeder Staat der Erde überfordert gewesen - angesichts der Wucht von 7,8 auf der Richterskala und eines betroffenen Gebiets, das halb so groß ist wie Deutschland und mehrere Millionenstädte hat. Aber die Menschen wollen auch wissen, warum die Warnungen der türkischen Geologen vor den wachsenden Spannungen entlang der tektonischen Platten nicht ernst genommen worden sind. Führende türkische Erdbebenforscher beklagen, nicht einmal von einem Bürgermeister der Region konsultiert worden zu sein.

Trümmerhaufen in KahramanmarasBild: Stoyan Nenov/REUTERS

In den nahezu zerstörten Großstädten Adiyaman, Antakya und Kahramanmaras sind inzwischen zehntausende Rettungskräfte aus der gesamten Türkei und dem Ausland aktiv. Abgelegenere Orte müssen dagegen weiter warten. Der Berliner Student Tuncay Sahin stammt aus dem Dorf Tokar in der Nähe von Adiyaman. Seine Mutter wurde in der Erdbebennacht in den Trümmern ihres Hauses begraben. Nachbarn bargen ihren Leichnam mit bloßen Händen - eine von sechs Toten allein in diesem Dorf. Sein Vater ist am Unglückstag unterwegs gewesen.

Zwei Tage nach der Katastrophe hatte es der junge Mann von Berlin nach Tokar geschafft. Jetzt steht Tuncay Sahin am Grab seiner Mutter und trauert. "Wir wussten alle, dass es hier Erdbeben geben kann, aber dass es uns so schlimm trifft, das ist unbegreiflich". Das zweistöckige Haus seiner Eltern hatten diese in den 1990er-Jahren gebaut. Aber auch ein erst einjähriger Neubau ist zusammengestürzt. "Der Staat sollte auch in den Dörfern die Bauausführungen und die Materialien stärker kontrollieren", sagt Sahin. Ein paar Nachbarn kommen hinzu. "Ab jetzt bauen wir hier nur noch einstöckig", ruft einer. "Wie unsere Vorfahren."

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